Wer morgens lacht
weiß es einfach nicht, woher hätte ich es auch wissen sollen. In unserer Klasse gab es zwei Mädchen, die regelmäßig gekifft haben, das habe ich zufällig mal aufgeschnappt, doch es hat mich nicht besonders interessiert, weil mich die beiden Mädchen nicht interessiert haben. Ich zögere, bevor ich weiterspreche, aber wenn Marie drogenabhängig gewesen und durch einen goldenen Schuss gestorben wäre, hätte man doch ihre Leiche finden müssen, und weil das nicht passiert ist, habe ich diese Möglichkeit schließlich verworfen.
Hast du nie um sie getrauert, fragt Ricki, ich meine, hast du nie einfach nur um sie geweint?
Das hätte sie nicht fragen dürfen, das nicht, es geht niemanden etwas an, ob ich weine oder nicht, noch nicht einmal Ricki. Wie hätte ich trauern sollen, fahre ich sie an, wie kann man um jemanden trauern, der vielleicht tot ist, aber vielleicht auch nicht? Manchmal war ich wütend auf sie und manchmal traurig, aber kein Gefühl war richtig, verstehst du, kein Gefühl hatte Bestand, weil auch das Gegenteil möglich gewesen wäre, es war ein ständiges Hin und Her, ein Zickzack von Möglichkeiten, ein Zickzack von Gefühlen. Und eigentlich ist es bis heute so geblieben, obwohl ich mir jetzt wünsche, sie wäre tot, endgültig tot. Es ist sieben Jahre her und sie quält mich noch immer, es reicht, aus, basta. Aber ich kriege das Basta nicht hin.
Ja, sagt Ricki und nippt an ihrem Tee, ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Ich war sechzehn, als mein Vater starb, aber er war sehr lange krank gewesen, von daher hatten wir genug Zeit, uns daran zu gewöhnen, dass er sterben würde. Trotzdem war das erste Jahr danach sehr schwer, meine Mutter hat dieses Basta, wie du es nennst, auch nicht hingekriegt, und wir, mein jüngerer Bruder und ich, mussten ziemlich schnell erwachsen werden. Ich habe damals viel um meinen Vater geweint, aber jetzt ist es vorbei. Inzwischen ist sein Tod zu einer traurigen Erinnerung geworden, die zu mir gehört, aber nichts mehr mit meinem Alltag zu tun hat.
Ich schaue sie an, keine Ahnung, wie man auf solch eine Mitteilung reagiert, was sie von mir erwartet, ich kann doch jetzt nicht »Es tut mir leid« sagen oder »Mein herzliches Beileid«. Neun Jahre nach seinem Tod?
Mach nicht so ein Gesicht, sagt Ricki und gießt sich Tee nach, ich habe dir das nicht erzählt, um dich traurig zu machen oder um Mitleid zu schinden, sondern nur, um klarzumachen, dass ich mir den Unterschied zwischen akzeptierter, anerkannter Trauer und deiner totalen Verunsicherung vorstellen kann, zwischen einem für alle nachvollziehbaren Verlust und dem Gefühl, schuldlos leiden zu müssen, ohne dass man einen offiziellen Grund dazu hat, vor allem in dem Alter, in dem du damals warst. In keiner Phase des Lebens ist man so verletzlich wie in den Jahren des Erwachsenwerdens, da ist jedes Leid wie das Ende der Welt und jede Kränkung einschneidend und bestimmend. Ich wollte dir nur zeigen, dass ich dich verstehe.
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll, sie kann sich nicht wirklich vorstellen, wie es mir damals ging, Gott sei Dank kann sie das nicht, ich drehe mich zum iPod und lausche den Worten, die Judith Holofernes singt:
Endlich ein Grund zur Panik, endlich ein Grund – los, Panik!
Als ob man für Panik einen Grund brauchen würde, sage ich, manchmal habe ich das Gefühl, ständig nach einem Grund zu suchen, nicht panisch zu sein, vor allem, wenn es um meine Schwester geht.
Ricki steht auf. Wollen wir noch ein bisschen um die Häuser ziehen, damit wir auf andere Gedanken kommen? Wir könnten Kevin fragen, ob er Lust hat, uns zu begleiten, ihm würde es bestimmt auch guttun, noch ein bisschen frische Luft zu schnappen.
Der Bann ist gebrochen, ich bin wieder hier, im Jetzt, in Frankfurt. Und ich bin froh darüber. Ich bin weit gegangen und weiß nicht, ob es nicht vielleicht zu weit war. Aber Marie hat sich zum Glück zurückgezogen, denn wenn sie noch da wäre, würde sie jetzt wieder den Esel erwähnen, oder sie würde sagen, wo bleibt deine Vorsicht, Anne, du bist wirklich ein Schaf, warum gehst du ohne Not ein Risiko ein? Aber sie sagt es nicht.
Fünfzehn
Was macht man, wenn man etwas tun will, was man für richtig hält, und trotzdem immer wieder davor zurückschreckt? Wie stellt man es an, die eigene Drückebergerei zu überwinden? Nun, man schafft äußere Bedingungen, die einem das ewige Ausweichen unmöglich machen, man kündigt etwas laut an, um sich selbst den Rückweg
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