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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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bist kalt wie ein Frosch, du versuchst immer, alles zu erklären und jedes Problem zu rationalisieren, das stinkt mir, verstehst du, es stinkt mir noch mehr als Omis Halsstarrigkeit.
    Ich habe mir diese Szene vermutlich deshalb gemerkt, weil ich nicht wusste, was rationalisieren heißt, ich musste das Wort erst nachschlagen, und dann war ich gekränkt und verstand nicht, warum sie mir meine Vernunft vorwarf. Ich selbst hielt mich einfach für pragmatisch, obwohl ich auch dieses Wort damals noch nicht kannte.
    Ihr hättet keine Zwillinge sein können, sagt Ricki, auf keinen Fall, und erst recht keine Annemarie.
    Nein, stimme ich zu, wir waren höchstens zwei Kopien von ein und demselben Bild, die eine Kopie in leuchtenden Farben, die andere in langweiligen Grautönen. Nein, bei uns war alles ordentlich verteilt, sie war die interessante Schöne, ich die langweilige Gescheite, ich war neidisch, ich habe ihr ihre Position übel genommen, aber heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob sie nicht auch neidisch war. Da gab es nämlich noch eine andere Szene, die mir neulich erst wieder eingefallen ist. Ich muss damals noch ziemlich klein gewesen sein, vielleicht sieben oder acht, jedenfalls war es zu einer Zeit, in der Marie sich noch nicht draußen herumgetrieben hat und wir beide viel zusammen unternommen haben. Es ging um Danziger Goldwasser, unsere Omi bekam zum Geburtstag und zu Weihnachten immer eine Flasche Danziger Goldwasser, weißt du, was das ist?
    Ricki lacht, ja, klar, meine alte Patentante trinkt das Zeug auch gern, ich hab’s sogar mal probiert, das ist ein Likör, in dem kleine Goldplättchen schwimmen, eigentlich liegen sie auf dem Boden, aber wenn man die Flasche schüttelt, schweben sie in der Flüssigkeit herum wie winzige Goldfische in einem runden Aquarium, als Kind fand ich das faszinierend.
    Ich lache auch, irgendwie froh darüber, dass wir eine Erinnerung teilen, auch wenn sie noch so unbedeutend ist. Stimmt, sage ich, wir, Marie und ich, waren auch fasziniert davon, und wir wollten unbedingt wissen, wie das Gold schmeckt, wir stellten uns Gott weiß was vor, eine paradiesische Delikatesse, auf jeden Fall etwas ganz unerhört Köstliches. Einmal, als unsere Omi zum Arzt gegangen war, trugen wir ihre Flasche in die Küche und kippten etwas von dem Zeug in eine Schüssel, Marie versuchte, die Goldplättchen herauszufischen, aber das war ebenso schwer, wie mit bloßen Händen Fische in einem Bach zu fangen. Sie wusste nicht mehr weiter und wollte schon aufgeben, aber ich hatte eine Idee, ich goss das Goldwasser durch ein Teesieb in eine andere Schale, und die Goldplättchen blieben im Sieb, sodass wir sie probieren konnten. Leider waren sie sehr enttäuschend, sie schmeckten nämlich nach nichts. Und als ich dann mit einem Trichter das Goldwasser in die Flasche zurückgoss, damit niemand merkte, was wir getan hatten, betrachtete Marie mich mit einem Blick, mit dem man früher auf dem Jahrmarkt vermutlich ein Kalb mit zwei Köpfen betrachtet hat, und sagte, du bist und bleibst eine verdammte Klugscheißerin. Ich war gekränkt. Warum konnte sie mich niemals loben?
    Ricki beugt sich vor, gießt mir Tee nach. Eine Weile sagen wir beide nichts, ich schaue in die Kerzen, während die letzten Töne eines Lieds verklingen, und einen Moment lang ist es so still, dass ich mir einbilde, die Flämmchen knistern zu hören, doch dann setzt eine neue Melodie ein, und Ricki fragt, was hast du eigentlich gedacht, was mit ihr passiert ist, als sie damals nicht mehr heimkam?
    Ich erschrecke, vorsichtig, Anne, pass gut auf, was du jetzt sagst, halte dich an die Geschichten, das konntest du doch immer gut, Geschichten erfinden, Geschichten sind keine Ausreden, sie helfen einem nur, das Leben so hinzukriegen, dass man es ertragen kann. Ich nehme einen Schluck Tee, schiebe mir eine dritte Praline in den Mund und überlege, wie ich ihr dieses Hin und Her, in dem ich damals lebte, erklären könnte, ohne aus dem Regen in die Traufe zu geraten, ohne in eine neue Falle zu tappen.
    Ich habe alles Mögliche gedacht, sage ich, jeden Tag etwas anderes, ich habe mir ständig Geschichten ausgedacht, was hätte ich sonst auch tun können. Eine Geschichte war zum Beispiel, dass sie sich mit Aids infiziert hat und sich so sehr schämt, dass sie lieber auf der Straße oder in irgendeinem Obdachlosenheim lebt, als es uns zu sagen. Oder dass sie einen Mann gefunden hat, viel älter als sie, aber sehr, sehr reich, und jetzt in einer tollen

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