Wer nach den Sternen greift
heitere ihn schon auf, meine Liebe. Mach du dir keine Gedanken, du hast genug andere Sorgen.«
»Ich glaube, heute geht es uns allen nicht so gut.«
Sie konnte nicht wissen, was Clarissa vorhatte. Sie hörte nicht das Gespräch, das Clarissa mit Oliver führte, bevor sie die erste Zeile zu lesen begann.
Letzte Nacht träumte ich, ich sei wieder auf Manderley.
Sie konnte nicht wissen, dass dieser Satz nicht von dem pumpenden Geräusch der Maschine begleitet wurde. Sie wusste nicht, dass Clarissa, während sie den Satz mit ihrer schönen Stimme in der ungewohnten Stille von Olivers Zimmer las, ihre Hand auf die Wange ihres Sohnes presste.
Erst nach fünf Seiten machte sie eine Pause und beugte sich über ihn, um festzustellen, ob er noch atmete. Dann stand sie auf, betrachtete ihren einzigen Sohn und steckte den Stecker wieder ein, so dass das Pumpen, das Heben und Senken des lebensrettenden Geräts erneut den Raum erfüllte. Clarissa klappte das Buch zu, blickte sich um und ging aus dem Zimmer, wobei sie leise die Tür hinter sich schloss. Sie ging den Flur entlang, nach oben in ihr Zimmer und warf sich schluchzend aufs Bett.
Als Louise Alex informierte, wies diese sie an, James Bescheid zu sagen, und dann klopfte sie leise an die Tür ihrer Schwiegermutter. Als keine Antwort kam, trat sie ein, durchquerte das Wohnzimmer und fand Clarissa auf dem Bett. Sie war völlig bekleidet eingeschlafen, das Gesicht nass von Tränen.
Alex legte sich neben die ältere Frau und zog sie an sich. Clarissa rührte sich und griff, immer noch mit geschlossenen Augen, nach Alex’ Hand.
58
I ch hoffe, Louise, dass Sie uns jetzt nicht verlassen wollen«, sagte Alex nach der Beerdigung.
»Ich möchte eigentlich nicht, aber da der Herzog jetzt nicht mehr lebt und auch keine Kinder mehr hier sind …«
»Es müssten jeden Tag neue Kinder kommen. Es geht immer noch weiter. Das war nur eine kurze Pause.«
»Nun, wenn das so ist, möchte ich mir gerne eine Woche Urlaub nehmen und meine Schwester im Norden besuchen. Ich habe sie seit Kriegsausbruch nicht mehr gesehen.«
»Ja, aber natürlich. Wenn Sie möchten, können Sie auch gerne länger bleiben.«
»Und wenn nun weitere Kinder eintreffen?«
Alex wollte gerade sagen, dass sie mit fünfunddreißig oder vierzig Kindern schon fertig würden, schließlich waren sie Hunderte gewöhnt, aber sie begriff, dass Louise das gar nicht hören wollte.
»Hat Ihre Schwester Telefon?«
»Nein, aber ich kann Sie ja vom Dorf aus jeden Tag anrufen.«
»Wenn Sie nur eine Woche dort sind, kommen wir schon zurecht. Aber« – Alex schüttelte den Kopf – »nicht viel länger.«
»Es kommt mir so unnatürlich still vor«, warf Clarissa ein. Bis zur Beerdigung hatte sie sich nur in ihrem Zimmer aufgehalten, aber jetzt nahm sie wieder an den Mahlzeiten der Familie teil. Allerdings war sie ruhiger als sonst und hielt sich die ganze Zeit nahe bei Alex.
»Ich weiß noch nicht einmal, ob die Züge regelmäßig verkehren«, sagte Louise. »Aber der Mann und der Sohn meiner Schwester sind beide im Krieg, und sie muss die Farm allein führen. Ich dachte, ich helfe ihr ein bisschen.«
Angst stieg in Alex auf. Und wenn nun Louise dort entdeckte, dass ihre Schwester nicht ohne sie auskam? Was sollte sie ohne Louise machen?
Noch in derselben Nacht, in der Louise abgereist war, bekamen sie die Nachricht, dass weitere Kinder an der Küste eintreffen würden.
Was sollen wir bloß tun?, dachte Alex. Kein Ben. Keine Louise. Als sie James anrief, um ihm Bescheid zu sagen, erwiderte er spontan: »Ich bringe meine Frau mit.«
Auch Clarissa erbot sich, mitzukommen.
Alex verbrachte eine halbe Stunde am Telefon, um alle anderen Beteiligten zu informieren, die genau wie sie gedacht hatten, eine Pause zum Luftholen zu haben. Es war wie in der Armee. Jeder wusste, was er zu tun hatte und an welchem Platz er stand.
Alex und Clarissa fuhren zur Küste und übernachteten dort, wobei sie sich den Wecker auf vier Uhr früh stellten. Und genau um diese Uhrzeit, als auch Reginald und die anderen beiden Heuwagen eintrafen, tanzten die Lichter von Booten auf den Wellen.
Alex atmete erleichtert auf. Ob wohl jemals wieder eine Zeit käme, in der sie sich um nichts und niemanden Sorgen machen müsste?
In der nächsten halben Stunde legten alle Boote an. Philippe war jedoch nicht bei den Männern.
»Wo ist er?«, fragte sie einen der Männer. Aber er zuckte nur mit den Schultern.
Schließlich kam Claude, einer
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