Wer nach den Sternen greift
die Suche nach Louise. Mit ihr konnte sie sich beim Abendessen unterhalten. Die liebe Louise. Als sie bei ihnen anfing, war sie Clarissa durchschnittlich und matronenhaft vorgekommen, aber mit den Jahren wurde sie immer jünger und attraktiver, und seit Alex einmal mit ihr einkaufen gegangen war, kleidete sie sich geschmackvoll. Sie benutzte jetzt Lippenstift, und ihre Augen strahlten, auch wenn sie müde war. Sie hatte beinahe so viel zu tun wie Alex und erledigte ihre Arbeit voller Elan. Sie konnte mittlerweile Auto fahren und beherrschte zahlreiche andere Dinge, die sie sonst nie gelernt hätte. Unter anderem konnte man sich mit ihr gepflegt unterhalten, und Clarissa war froh, dass sie mit ihr die Zeit überbrücken konnte, bis Ben zurückkam und Alex sich wieder erholt hatte.
Clarissa hörte Kinderstimmen und trat lächelnd durch die Tür, die zum Kinderflügel führte.
Ben kam an Weihnachten nach Hause.
Alex erholte sich wieder, blieb aber still und in sich gekehrt, saß am Fenster und schaute hinaus, machte lange Spaziergänge mit den Hunden oder ritt stundenlang aus. Clarissa musste sich wieder verstärkt um den Haushalt kümmern, während Louise für die etwa fünfzig Kinder verantwortlich war. Alex zeigte nur wenig Interesse. Sie bot keine Hilfe an, aß kaum und wurde dünn und blass. An kalten Nachmittagen saß sie vor dem Kamin und las. Meistens glitt ihr nach kurzer Zeit das Buch aus den Händen, und Clarissa deckte sie mit einem Quilt zu.
Erst im Februar wurde Alex ein wenig lebendiger. Eines Nachmittags war sie wieder vor dem Kamin eingeschlafen. Als sie erwachte, reckte sie sich und sagte zu Clarissa: »Wann gibt es Tee? Ich habe Hunger.«
Sie erklärte nichts, versuchte nicht, sich zu entschuldigen, sondern nahm einfach ihr gewohntes Leben wieder auf und kümmerte sich um alles.
Im Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie, und Hoffnung kam auf. Mittlerweile hatte Alex dreitausend Kinder nach Amerika geschickt. Sophie hatte für jedes ein Zuhause besorgt und genauestens darüber Buch geführt. Sie hatte fünf Leute eingestellt und kümmerte sich mit ihnen um die kleinsten Details.
So hatte sie glücklicherweise keine Zeit, auch noch Linas Leben zu organisieren, die bei Kriegsende ihr Medizinstudium an der New York University beinahe abgeschlossen hatte. In all den Jahren in New York hatte sie nicht eine einzige Verabredung, aber natürlich waren die meisten jungen Männer auch im Krieg. Außerdem war sie beschäftigt mit ihrem Studium, unterstützte Sophie bei ihrer Arbeit und leistete Michael Gesellschaft, wenn er zu Hause war, so dass sie für junge Männer einfach keine Zeit hatte.
Sophie war sich sicher, dass sie eine alte Jungfer werden würde, aber wenn sie so darüber nachdachte, war das sicher nicht das Schlechteste, schließlich gab es nicht allzu viele glücklich verheiratete Frauen.
Die Gesellschaft hatte sich gewandelt. Es spielte kaum noch eine Rolle, ob man richtig angezogen war oder ohne Begleitung ausritt.
Als Alex das erste Mal nach dem Krieg wieder nach New York kam, hatte sie ihre Kinder vier Jahre lang nicht gesehen. Michael, der jetzt sechzehn war, erkannte sie kaum wieder. Sophie hatte ihn nach Phillips-Exeter geschickt, aber er war nicht so weit weg, dass er nicht alle zwei Monate nach New York kommen konnte, um seine Schwester zu sehen. Er hatte auch seine Großmutter sehr lieb gewonnen, und Frank und Annie waren seiner Meinung nach sowieso die allerbesten Urgroßeltern, die man sich nur vorstellen konnte. Frank und Sophie gingen mit ihm in die Oper. Er liebte Musik, weil der Stiefsohn seines Großvaters Colin, Julian, Musiker war und Michael ihn sehr gerne mochte. Aber seine wirkliche Leidenschaft galt immer noch der Kunst. Sowohl Lina wie er sprachen Englisch wie Amerikaner, und an den Wochenenden, an denen Michael in New York war, gingen sie abends nach Greenwich Village, um in dunklen, verräucherten Bars Jazz zu hören.
Alex erkannte ihre Kinder kaum wieder.
Amerika hatte zwar am Krieg teilgenommen, war aber nicht so stark davon berührt worden. Während die Männer gekämpft hatten und in den Schlachten gefallen waren, war das alltägliche Leben nicht davon betroffen gewesen, und kein Amerikaner konnte sich vorstellen, wie die Europäer in den letzten sechs Jahren gelebt hatten.
Ein neues Zeitalter dämmerte heran. Und 1946 war die neue Zeit da.
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E s ist so wunderbar, wieder Farbe im Leben zu haben. In Europa ist alles grau, und wenn ich
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