Wer nach den Sternen greift
sie zu sich kommt, sagst du ihr besser nicht, dass Amerika in den Krieg eingetreten ist.«
»Wird das denn etwas ändern?«
»Das können wir nur hoffen. Vor allem für uns auf unserer kleinen Insel wird sich etwas ändern. Du wirst sehen, binnen weniger Monate wimmelt es hier von amerikanischen Truppen. Es werden schon überall Stützpunkte errichtet.«
»Wir haben nicht mehr genügend Leute, die uns hier helfen. Ich musste diese Woche sogar selber bügeln, und ich habe leider ein paar Taschentücher angesengt. Schließlich hatte ich noch nie in meinem Leben ein Bügeleisen in der Hand. Aber wir können doch keine zerknitterten Taschentücher benutzen.«
James lachte. »Nein, meine Liebe, das kannst du bestimmt nicht.«
Clarissa entging seine Erheiterung. »Wir schlafen sogar in ungebügelter Bettwäsche.«
»Ihr habt Glück, dass ihr immer noch Wäscherinnen habt.«
»Die Frauen im Dorf helfen bereitwillig mit, wenn es um die Kinder geht, aber als Hausmädchen will sich niemand mehr einstellen lassen. Früher haben sie sich um die Stellen gerissen.«
»Mittlerweile machen Frauen die Arbeit, die die Männer getan haben. Es wird ein Problem sein, sie wieder an den Herd zurückzuschicken, nachdem sie jetzt die Unabhängigkeit kennengelernt haben, die ihnen eigenes Geld sichert.«
»Glaubst du das wirklich?«
James erhob sich. »Ja, das glaube ich wirklich.« Er ergriff seine schwarze Medikamententasche und seinen Hut. »Hoffentlich habe ich unrecht.«
Gemeinsam gingen sie zur Tür.
»Ben sagte, er sei Weihnachten wieder zu Hause, aber ich habe Angst, dass die U-Boote jetzt auch die amerikanischen Schiffe angreifen. Wir hatten schon genug Unglück hier, und nach dem Gesetz der Serie müsste er eigentlich heil zurückkommen.«
Clarissa stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste James auf die Wange. Er legte den Arm um sie und zog sie einen Moment lang an sich.
»O James«, hauchte sie.
»Ich bin ja hier, meine Liebe.«
»Du warst immer mein Fels in der Brandung.«
»Und das werde ich auch hoffentlich immer sein.«
Clarissa blickte ihm nach, als er die Treppe hinunter zu seinem Auto ging. Bald würde es schneien, dachte sie.
Sie ging den langen Flur entlang zu den Räumen der Kinder. Letztes Jahr zu Weihnachten hatten Alex und sie für zweihundert Kinder Weihnachtsgeschenke gekauft. Unterwäsche und Schuhe, Socken und Jacken. Alex hatte darauf bestanden, für jedes Kind noch etwas anderes dazuzukaufen, ein Spielzeug, eine Puppe, ein Buch, eine Eisenbahn, etwas, an dem sie Freude haben konnten. Einen großzügigeren Menschen als Alex kannte Clarissa nicht. Vielleicht war es ja leicht, mit einem so großen Vermögen großzügig zu sein, aber sie kannte niemanden sonst, der so viel für andere ausgab. Wenn Clarissa daran dachte, wie sie Oliver in diese Ehe gedrängt hatte, weil sie damals nur daran interessiert war, was man mit dem Geld der amerikanischen Erbin alles anfangen könne, stieg ihr die Schamröte ins Gesicht. Und letztlich waren ihre kühnsten Träume übertroffen worden. Sie hatte ihre engste Freundin gefunden, die Frau, die sie über alles in der Welt liebte, sogar noch mehr als Ben und James. Diese Schwiegertochter hatte ihrem Leben einen Sinn gegeben und ihr zum ersten Mal das Gefühl vermittelt, etwas wert zu sein.
Wie hatte sie sich zu der Frau entwickelt, die sie heute war? Als sie mit Oliver hierhergekommen war, war sie ein typisches neunzehnjähriges Mädchen gewesen, das nur Kleider und dummes Zeug im Kopf hatte und sich hier draußen in der Einsamkeit eingesperrt fühlte. Clarissa erinnerte sich noch zu gut an das einsame Geschöpf, das in dicken Jacken herumgelaufen war, weil es hier im Schloss so zugig und kalt war. Und sie, die ältere Frau, war ihre einzige Gesellschaft gewesen, obwohl sie nichts anderes verband als die Tatsache, dass sie miteinander verwandt waren und ihre Männer sie allein ließen.
Hatte alles an dem Tag begonnen, als sie Lina vor der Tür gefunden hatten? Hatte Alex das Gefühl gehabt, sie dürfe die anderen nicht die Zurückweisung und Einsamkeit spüren lassen, die sie mit sich herumtrug? Nun, Clarissa hatte sich jahrelang genauso gefühlt, aber nichts dagegen unternommen. Alex jedoch hatte anderen Menschen Liebe und Verständnis entgegengebracht. Für Clarissa war sie beinahe so etwas wie eine Heilige.
Kopfschüttelnd stellte Clarissa fest, dass sie schon die ganze Zeit im Flur stand und aus dem Fenster starrte. Leise murmelnd machte sie sich auf
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