Wer nach den Sternen greift
uns treffen konnten, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.«
»Ihr wart also ein richtiges Liebespaar?«
Kinder taten sich immer schwer, ihre Eltern in dieser Hinsicht zu verstehen.
Alex nickte. »Ja, Michelle und Iris wussten es von Anfang an und waren immer sehr freundlich zu mir. Philippe hatte seine Frau Jahre, bevor wir uns kennenlernten, verloren. Außerdem haben die Franzosen sowieso mehr Verständnis für Affären.«
»O Mama, ich kann mir kaum vorstellen, dass du eine Affäre hattest.« Lina lachte. »Aber es macht mich froh, zu wissen, dass dich ein Mann geliebt hat. Warum hast du dich nicht scheiden lassen?«
»Liebling, das war 1930, nicht 1946. Und für den britischen Hochadel ist es immer noch nahezu unmöglich, sich scheiden zu lassen.«
»Dann habt ihr euch also von 1930 bis zu seinem Tod geliebt. O Mama.« Lina schwieg einen Moment lang. »Mama, ihr wart schon damals ein Liebespaar? Noch vor Michael?«
Alex blieb das Herz stehen. Hatte sie zu viel gesagt? Das hatte sie nicht gewollt. Zögernd nickte sie. Lina starrte sie stumm an, aber am Ausdruck in ihren Augen erkannte Alex, dass sie die Wahrheit erraten hatte.
Sophie hatte Unterlagen zu jedem Kind, das untergebracht worden war. Natürlich konnte Alex nicht jedes französische Kind, das irgendwo in Amerika eine Familie gefunden hatte, aufsuchen, aber sie wollte zumindest die wenigen Kinder sehen, die in New York City geblieben waren. Sophie beschäftigte eine ganze Schar von Pflegerinnen, die sich zweimal im Jahr davon überzeugten, dass es allen Kindern in ihrem neuen Zuhause gutging.
Alex hatte nicht damit gerechnet, so herzlich empfangen zu werden. Sie hatte sich gedacht, dass manche Familien sicher traurig sein würden, das Kind wieder weggeben zu müssen, aber andere wären bestimmt auch erleichtert. Auf die Reaktion des ersten Kindes jedoch, das sie besuchte, war sie nicht vorbereitet. Das kleine Mädchen, das mittlerweile neun Jahre alt war, war mit drei Jahren aus Frankreich gekommen. Sie klammerte sich an ihre Mutter und wollte sie nicht loslassen.
»Sie will nicht weg«, sagte die Pflegemutter mit Tränen in den Augen und legte dem Kind den Arm um die Schultern. »Wir sind ihre Familie.«
»Ich will nicht gehen.« Das Mädchen hob sein tränenüberströmtes Gesicht und stampfte mit dem Fuß auf.
»Sie kann kein Französisch mehr, und an andere Eltern als uns erinnert sie sich nicht.«
»Ich weiß«, erwiderte Alex. Aber sie war auf einen solchen Schmerz nicht vorbereitet gewesen. »Ich weiß, dass es sehr schmerzlich wird. Aber ich muss Ihnen leider sagen, dass das Schiff in drei Wochen ablegt, am Dreiundzwanzigsten. Sollen wir sie abholen, oder möchten Sie die Kleine lieber selber zum Schiff bringen?«
»Nein«, erwiderte die Frau, »ich bringe sie. Sie wird sowieso völlig verängstigt sein.«
Es war eine Szene, die sich tausendfach wiederholen sollte. Nicht ein einziges Mal war Alex in den Sinn gekommen, dass diese Kinder viel zu klein gewesen waren, um sich an ihre wahren Eltern zu erinnern. Und sie hatte nicht daran gedacht, dass es quälend für die Kinder sein würde, die einzige Familie zu verlassen, die sie in den letzten Jahren gekannt hatten. Die Eltern in Frankreich und England warteten sehnsüchtig auf die Heimkehr ihrer Kinder, und auch sie hatten nicht bedacht, dass diese Kinder jetzt Fremde waren, die noch nicht einmal mehr ihre Sprache sprachen. Sie glaubten, sie hätten ihre Kinder gerettet und die Kinder würden ebenso glücklich sein wie sie, sie wieder in die Arme schließen zu können. Aber letztendlich empfand kein einziges Kind Wärme und Liebe, als es zu seinen leiblichen Eltern zurückkehrte. Tausende hatten in Frankreich nur noch einen Elternteil, meistens die Mutter, da der Vater im Krieg gefallen war, und einige kamen sogar nur zu Großeltern zurück. Aber, so sagte Alex sich, sie waren gesund und lebten und sie würden sich wieder zurechtfinden.
Manche jedoch hatten keine Verwandten mehr in Frankreich und konnten in Amerika bleiben, bei den einzigen Eltern, die sie kannten.
Bis zum Frühjahr 1946 überquerte Alex dreimal den Atlantik, und jedes Mal brachte sie Hunderte von Kindern mit, die wieder mit ihren Eltern vereint wurden. Im April 1946 war die Aktion abgeschlossen, und Alex fuhr wieder nach New York zurück. Die Kinder, die in Amerika geblieben waren, waren mittlerweile von ihren amerikanischen Familien adoptiert worden. Sophie kümmerte sich um all diese Angelegenheiten, und Alex
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