Wer nach den Sternen greift
weinte die gesamte Reise über, aß kaum etwas, reagierte trotzig, als ihre Mutter sie zwang, sich zum Essen in den Speisesaal zu begeben und am anschließenden Tanz teilzunehmen.
In London stiegen sie im Brown’s Hotel ab. Sophie nahm sofort Kontakt zu den Freunden und Bekannten auf, die sie in der Stadt gefunden hatte, und schon bald darauf waren sie in fünf verschiedenen Londoner Privathäusern eingeladen. Jeder ihrer Gastgeberinnen gestand Sophie, sie träume davon, Alex an einen adeligen Engländer zu verheiraten, und in den nächsten Monaten solle ihre Tochter möglichst vielen jungen Männern aus der Aristokratie vorgestellt werden.
Das war genauso leicht getan wie gesagt, denn in England wimmelte es von armen jungen Adligen, die nur zu gerne eine amerikanische Erbin heiraten wollten, vor allem, wenn sie so hübsch und jung war wie Alex. Liebe gehörte damals zur Eheschließung nicht dazu. Entscheidend war nur das Geld.
Alex jedoch trat den jungen Männern beim Tanzen absichtlich auf die Füße, lächelte nie und gab einsilbige Antworten. Sie sehnte sich nach Harrys Berührungen, nach seinen Küssen und seiner Liebe. Aber sie dankte auch ihrem Schöpfer, dass ihre Mutter nicht wusste, wie weit sie gegangen waren. Sie wäre außer sich vor Wut gewesen, wenn sie erfahren hätte, dass ihre Tochter keine Jungfrau mehr war.
Alex wusste nicht, was an dem Sohn des siebten Herzogs von Yarborough anders sein sollte als an den anderen jungen Männern, mit denen sie tanzen musste. Sie konnte sich kaum an ihn erinnern und war deshalb überrascht, als ihre Mutter glücklich verkündete, sie seien zum Wochenende auf Schloss Carlisle eingeladen. Man erhielt nicht leicht eine Einladung in dieses Schloss, weil es eines der größten und schönsten Schlösser im Königreich war, wenn auch ein wenig heruntergekommen.
Sophie hatte die Jungen sofort nach ihrer Ankunft in England in ein Internat geschickt, so dass nur sie und Alex im Brown’s wohnten, was Alex deprimierend fand. Allerdings fand sie im Moment sowieso alles und jeden entsetzlich langweilig. Sie hatte an nichts Freude, obwohl sie zugeben musste, dass es ihr immer schwerer fiel, sich an Harrys Augen und sein Lächeln zu erinnern.
Sophie und Alex fuhren mit dem Zug an Oxford vorbei nach Woodmere, wo eine Kutsche sie erwartete, mit der sie auf den riesigen Besitz gebracht wurden. Durch ein Marmorportal gelangte man in den Park, der ebenso schön war wie das Schloss, wenn auch ein wenig verwildert.
»Es ist so wunderschön«, hauchte Sophie verzückt.
Auch an Alex war die Schönheit nicht verschwendet. Links lag ein See, und zu ihrer Rechten tummelte sich eine Herde Schafe. Kleine Wäldchen tauchten hier und dort auf, und Kühe grasten auf den Wiesen. Etwa einen Kilometer vor dem Schloss fuhren sie über eine Brücke, die einen künstlichen See überspannte, und dann kam das Gebäude aus gelbem Stein mit seinen hohen Marmorsäulen in Sicht, dessen Flügel sich so weit zu beiden Seiten erstreckten, dass Alex die Anzahl der Fenster nicht zählen konnte. Auf dem Dach des Schlosses flatterte eine Fahne.
»Das bedeutet, dass der Herzog zu Hause ist«, erklärte der Kutscher.
»Das will ich doch hoffen«, sagte Sophie. An Alex gewandt fuhr sie fort: »Es gibt nur achtundzwanzig Herzogtümer im Land.«
Das war Alex völlig gleichgültig.
Riesige, ungemähte Rasenflächen umgaben das Schloss, und die gesamte Gartenanlage wirkte ein wenig chaotisch. Früher einmal war sie vermutlich unvergleichlich schön gewesen.
Die Kutsche hielt vor einem großen Tor, das von zwei Männern in Livree geöffnet wurde. Die Pferde trabten auf einen mit gelben Ziegeln gepflasterten Hof.
Sophie und Alex blickten staunend an dem prächtigen Gebäude hinauf. Das Schloss war drei Stockwerke hoch und etwa sechzig Meter lang. An jeder der vier Ecken ragte ein Turm mit Zinnen emport.
»Es sieht älter aus als unser Land«, sagte Sophie.
»Es sieht aus wie ein Kerker«, erklärte Alex. »Ich würde es schrecklich finden, hier wohnen zu müssen. Hier gibt es wahrscheinlich noch nicht einmal eine Zentralheizung. Wie im Mittelalter!«
Sophie hingegen fand es beeindruckend. Sie blickte sich um. »Der Park ist prachtvoll …«
»Er ist ungepflegt«, erwiderte Alex. »Völlig verwildert und voller Unkraut. Sie sollten mal einen guten Gärtner einstellen.«
Sophie, deren eigentliche Absicht war, dass Alex eines Tages hier leben würde, fuhr fort: »Das Haus ist wahrscheinlich voller
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