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Wer nichts hat, kann alles geben

Wer nichts hat, kann alles geben

Titel: Wer nichts hat, kann alles geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Rabeder
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schließen, dass der Aufwind auch verschwunden ist, sonst würde er weitere Feuchtigkeit nachliefern. Das muss aber nicht immer so sein. Bevor die Luft kondensierte, gab es ja auch schon einen Aufwindstrom, das Kondensieren ist ja erst das Ergebnis. Man weiß also nicht: Hat sich die Wolke aufgelöst, weil es darunter keinen Aufwind mehr gibt? Oder kommt gerade ein neuer Thermikschwung?
    Darum gilt es, das zu beobachten, was man einen Wolkenzyklus nennt. »Lebt« die Wolke nur ein oder zwei Minuten, kann das ein Zeichen für wenig Feuchtigkeit
sein, das kommt in trockenen Gebieten wie Australien oft vor. Dort spricht man auch vom Phänomen der Blauthermik, also einer Thermik ohne Wolken. Eine schnell »sterbende« Wolke kann aber auch bedeuten, dass der Aufwind bereits nach ein paar Minuten wieder versiegt ist, weil das Warmluftpolster extrem klein war, was an sehr windigen Tagen oft passiert. Der starke Wind reißt dann schon kleine Warmluftpolster vom Boden weg, jeder Thermikbart hat daher nur eine kurze Lebensdauer.
    Gemein sind die Wolken, die wir »Leichen« nennen : Die sind wunderschön anzusehen, allerdings gibt es darunter schon lange keinen Aufwind mehr. Die Schicht, in der diese Wolke steht, ist so feucht, dass die Wolke sich kaum auflöst. Sie bleibt lange stehen und zieht übers Land, wenn es Wind gibt, der Aufwind aber ist schon längst tot. So fliegt man hin und denkt sich: »Juchhe, was für eine wunderschöne Wolke!« Und stellt dann vor Ort fest: Da ist ja gar nichts. Wenn einem das zwei- oder dreimal passiert ist, begreift man: Vorsicht, die Wolken, die gut ausschauen und schon länger am Himmel stehen, sind Leichen. Also achtet man besser auf frische Wolken, auf kleine, die sich gerade aufbauen, und ändert die Strategie.
    Als Segelflieger befindet man sich deshalb in einem permanenten Entscheidungsprozess, weil die Natur ständig neue Zeichen aussendet. Man hat seine Erfahrungen mit an Bord sowie das Wissen über die aktuelle Wetterlage, trotzdem gilt es, in der konkreten Situation intuitiv zu entscheiden, wohin man fliegt. Man
kann sich nie sicher sein, dass eine Wolke auch tatsächlich das aussagt, was man unter ihr vermutet. Und: Man muss fühlen, was ist! Einer meiner Lieblingssätze stammt von Ingo Renner, dem einzigen vierfachen Weltmeister zurzeit, einem Deutschen, der in Australien lebt. Der lautet: »Thermik ist dort, wo man sie findet. « Viele Segelflieger aber erliegen der Versuchung, nur ihren theoretischen Vorgaben zu folgen.
    Die ersten Jahre als Segelflieger verbrachte ich darum vor allem damit, mich selbst darin zu schulen, in solchen Entscheidungsprozessen immer sicherer und selbstbewusster zu werden. Meine Schüchternheit aus meinem bodenständigen Leben konnte ich dennoch nur langsam abbauen. Wenn ich in der Luft beobachtete, wie ein anderer Pilot mit mehr Erfahrung auf eine bestimmte Wolke zusteuerte, war ich überzeugt, dass der mehr sah und spürte als ich. Also folgte ich seiner Spur und war oft genug enttäuscht darüber, dass dort, wohin ich ihm nachgeflogen war, kein Aufwind war. So reifte in mir immer mehr die Überzeugung, dass ich mich nur auf einen wirklich verlassen konnte: auf mich selbst. Meinen Intellekt, mein Gefühl, meine Intuition.
    Ich fand beileibe auch nicht immer die richtigen Aufwinde, die mich nach oben hoben, doch wenn ich eine falsche Stelle angeflogen war, konnte ich nur mich selbst dafür verantwortlich machen. Je mehr Flugkilometer ich zurücklegte, umso mehr spürte ich aber, dass ich mich auf mein eigenes Gespür sehr gut verlassen konnte.

    Ich habe daraus ein Prinzip abgeleitet, das mich seitdem durch mein ganzes Leben begleitet hat. Jede unternehmerische Entscheidung, die ich später getroffen habe, folgte ihm, und ich bin mir sicher, dass ich nicht diesen »Erfolg« gehabt hätte, wenn ich mich davon nicht hätte leiten lassen. Es lautet: In den entscheidenden Momenten ist es immer der Bauch, der die richtige Entscheidung trifft, nicht der Kopf. Wenn man nicht wissen kann, wie man sich entscheiden soll, kann man es nur noch spüren. In den allermeisten Fällen hat der Bauch ein sehr verlässliches Gespür dafür, was die richtige Entscheidung ist.
    Ich jedenfalls kann im Rückblick sagen: Alle Entscheidungen, die ich aus dem Bauch heraus getroffen habe, haben sich im Nachhinein als richtig erwiesen, die Kopfentscheidungen hingegen haben mich sehr oft in Situationen geführt, in denen ich das Gefühl hatte, in einer Sackgasse gelandet zu sein

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