Wer nichts hat, kann alles geben
– oder, um es in der Sprache der Segelflieger auszudrücken, unter einer toten Wolke.
Natürlich hat auch der Kopf seine Existenzberechtigung, erst recht in einem Segelflugzeug. Es hat ja keinen Sinn, »kopflos« durch die Gegend zu fliegen. Man muss schon genau wissen, was man tut. Man darf sich nicht ins Cockpit setzen und sich denken: Wenn ich erst einmal in der Luft bin, werde ich schon irgendwie runterkommen. Wie man richtig startet und wie man sich selbst und das Segelflugzeug wieder heil zurück auf den Boden bringt, muss man lernen, genauso wie man das Ein- und Ausparken beherrschen muss, wenn
man Auto fahren möchte. Doch diese Fähigkeiten machen noch keinen guten Segelflieger aus.
Einen guten Segelflieger erkennt man daran, dass er in der Lage ist, in der Luft Dinge wahrzunehmen, die anderen verborgen bleiben. Die aber erkennt man oft nicht mit den Augen, sondern nur mit dem Bauch, der einem ein Gefühl dafür vermittelt, welche Entscheidung sich am besten anfühlt. Moderne Segelflugzeuge haben zwar Computer an Bord, mit denen sich alle möglichen Parameter messen und berechnen lassen. Doch ob man vor dem nächsten Bergkamm, den man überfliegen möchte, Aufwinde findet, die einen so weit nach oben tragen, dass man ganz sanft darübergleiten kann, ob eine Wolke, die man vor sich sieht, tatsächlich ein Hinweis darauf ist, dass darunter ein Aufwind herrscht – das zeigt einem kein Computerdisplay an.
Und außerdem können Instrumente nur messen, was draußen passiert. Bis das in eine Anzeige übersetzt wird und der Pilot reagieren kann, ist ein Teil dessen, was sie erfasst haben, vielleicht schon wieder vorbei. Man kann sich den teuersten Segelflieger kaufen, den man bekommen kann: Wenn man sich in der Luft nicht auf sein Gefühl verlässt, wird man dennoch keine erfüllenden Flüge erleben. Umgekehrt kann man auch in einem dreißig Jahre alten Flieger wahre Höhenflüge erleben, wenn man dem Kopf im richtigen Moment sagt, dass er bitte schön die Klappe halten möchte.
Oft genug ist es im Alltag ja ähnlich: Wir stehen vor einer wichtigen Entscheidung, von der wir nicht wissen,
wohin sie führen wird, weil sie in der uneinsehbaren Zukunft liegt. Alle wichtigen Parameter, die man dafür heranziehen kann, sind zusammengetragen, alle Argumente abgewogen. Und dann? Wie soll man sich jetzt entscheiden, wem soll man folgen, seinem Bauchgefühl oder dem, was der Kopf vorgibt? Ich bin überzeugt, dass sich die meisten Menschen in vielen Situationen gern anders entscheiden würden, als sie es dann tatsächlich tun, dass sie sich also gegen das entscheiden, was ihnen der Bauch empfiehlt. Sei es, weil sie nicht den Mut haben, auf ihren Bauch zu hören, sei es, weil der Kopf ihnen sagt: Wenn du dich so entscheidest, wie ich es für richtig halte, gehst du den sichereren Weg. Da kann der Bauch dann zehnmal einwenden, dass man sich damit zwar für die Sicherheit, aber gleichzeitig auch gegen die eigene Natur, gegen die tatsächlichen Bedürfnisse oder die persönlichen Leidenschaften entscheidet.
Wir haben verlernt, öfter auf unseren Bauch zu hören, weil wir den Kontakt zu unserer eigenen Intuition verloren haben, wie sie für uns im Kindesalter noch ganz normal war. Sie hat uns ermöglicht, ausschließlich im Hier und Jetzt zu leben, weil wir immer nur das getan haben, was sich gut und richtig angefühlt hat. Oft haben wir dann dabei die Welt um uns herum vergessen. Ich kann mich an viele Situationen in meiner Kindheit in Leonding erinnern, als meine Mutter gesagt hat: »Sei um zwölf daheim, wir wollen gemeinsam essen.« Und trotzdem habe ich oft gar nicht mitbekommen, dass es schon längst zwölf war. Ich habe einfach gespielt.
Irgendwann hörte ich dann einen Schrei und dachte mir: »Oh, das war doch die Mama, was wird sie denken? Ist es schon zwölf?« Als Kinder haben wir in Gefühlen gedacht. Diese Fähigkeit haben wir über unsere schulische Bildung und die Anpassung an gesellschaftliche Konventionen jedoch verlernt und verloren.
Es würde uns deshalb guttun, wieder mehr auf unseren Bauch zu hören. Das bedeutet ja nicht, dass man vom einen Extrem ins andere kippen muss. Auch im Segelflugzeug ist man ständig gefordert, eine Balance zwischen Kopf- und Bauchentscheidungen zu finden. Wann verlässt man sich auf seine Intuition, wann lieber auf die Fakten? Wann folgt man dem Gefühl, wann seinem Wissen? Man kann sich diesen Prozess so vorstellen, als säße man an einem Regler, an dessen einem Ende
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