Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
›Hey, wer hat denn diese ganzen Stühle mitgebracht?‹« Diesen Gag würde ich definitiv nicht brauchen. An den viereckigen Tischen saßen dicht gedrängt ungefähr zweihundert Leute.
An diesem Abend sollten zehn Leute auftreten, die alle entweder für die Printmedien oder als Fernsehjournalisten arbeiteten. Man brachte uns in einer kleinen Nische unter, abgetrennt vom restlichen Publikum. Ich stellte mich den anderen vor und setzte mich auf eine rote Lederbank in einer ruhigen Ecke, wo ich meinen Auftritt noch einmal in Ruhe durchgehen konnte. Einerseits war es mir recht, wie rasch die Zeit verging, andererseits war es mir ein Horror: Mit jeder Minute kam ich meiner größten Angst näher, aber auch dem Ende meiner größten Angst.
Im schummrigen Licht konnte ich erkennen, dass Matt mit ungefähr dreißig Freunden eine ganze Ecke in Beschlag genommen hatte – er hatte alte Arbeitskollegen mitgebracht, meine Collegefreunde, seine Collegefreunde und natürlich Chris, Jessica und Bill. Als ich diese ganzen Leute sah, die gekommen waren, um mich zu unterstützen, war ich so gerührt, dass ich ein paar Tränen wegblinzeln musste. Gleichzeitig flatterte mir das Herz, denn wenn ich völlig versagte, würde ich eben nicht bloß vor einer Ansammlung von Fremden versagen, die ich sowieso nicht wiedersah.
Ein untersetzter Latino mit schwarzer Lederjacke, Baseballkäppi und kleinen Goldohrringen kam auf mich zu und hielt mir die Hand hin.
»Noelle? Ich bin Mark Anthony. Freut mich, dich endlich mal persönlich kennenzulernen. Du trittst übrigens als Dritte auf.«
»Gut. Ich werd’s so schnell wie möglich hinter mich bringen«, sagte ich, während ich gleichzeitig eine SMS an Matt schrieb, um ihm mitzuteilen, wann ich dran war. »Ich weiß auch nicht, warum ich so nervös bin. Sind doch nur sechs Minuten meines Lebens.«
»Es sind übrigens bloß fünf«, bemerkte Mark Anthony.
Ich blickte verdutzt von meinem BlackBerry auf. »Was?«
»Ja, tut mir leid. Ich hab mich anscheinend getäuscht, als ich dir gesagt habe, dass du sechs Minuten für deinen Auftritt hast. Der Moderator hat mir gerade mitgeteilt, dass ihr alle nur fünf Minuten habt.«
Im ersten Moment war ich erleichtert. Eine Minute weniger auf der Bühne. Dann wurde mir klar, was das bedeutete.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte Mark Anthony: »Du musst also zwei Elemente streichen. Soll ich dir irgendwas von der Bar bringen?«
Ich war sprachlos und konnte nur dümmlich den Kopf schütteln. Meine Gedanken überschlugen sich. Der ganze Text war sorgfältig geplant, mit nahtlosen Übergängen von einem Teil zum nächsten. Ich hatte eine Woche gebraucht, um ihn perfekt auswendig zu lernen. Wenn ich jetzt zwei Elemente strich, brach alles in sich zusammen. Ich griff in meine Handtasche und zog mein Skript hervor, das ich säuberlich auf drei Bögen getippt hatte. Hektisch blätternd überflog ich den Text. Natürlich konnte ich auf Nummer sicher gehen, indem ich einfach die beiden vulgärsten Elemente rausnahm. Dann musste ich mir zumindest nicht so viel Sorgen machen, dass ich den Leuten auf den Schlips trat.
»Hat jemand einen Stift dabei?«, rief ich verzweifelt.
Eine vorbeilaufende Kellnerin zog einen blauen Kugelschreiber aus ihrer Schürze und gab ihn mir. Als sie meine panische Miene sah, meinte sie: »Den kannst du behalten, Schätzchen.«
Ich setzte an, die vulgären Passagen zu streichen, doch als ich die Spitze des Kulis aufs Papier drückte, brachte ich es nicht über mich. Natürlich waren das die riskantesten Stellen, aber sie hatten auch das größte Lacherpotenzial. Bevor mich der Mut ganz verlassen konnte, strich ich rasch die Terroristenbabys und den breitbeinig dasitzenden Mann in der U-Bahn.
Der Moderator, ein gutaussehender dunkelhaariger Typ Mitte dreißig mit leichtem Brooklyner Akzent, kam auf die Bühne, um das Publikum aufzuwärmen. In der Zwischenzeit kritzelte ich fieberhaft neue Übergänge in mein Skript, um die Löcher zu stopfen, die die gestrichenen Passagen hinterlassen hatten. Wenige Minuten später sagte er den ersten Teilnehmer an, einen Politikredakteur der New York Post . Der begann mit der Zeile: »Hallo. Ich bin Katholik, schwarz, stamme von den Westindischen Inseln und wähle die Republikaner. Haben wir noch andere schwarze katholische Republikaner hier?« Stille. »Okay. Hatte ich mir fast schon gedacht.« Schallendes Gelächter.
Ich versuchte, meinen Auftritt noch einmal durchzugehen, aber schon
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