Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
Souveränität und Autorität vermitteln.
Ich räusperte mich und wiederholte die Passage noch einmal mit tieferer, entspannterer Stimme. Schon besser. Ich holte mein digitales Diktiergerät heraus, mit dem ich sonst Interviews mit Prominenten aufzeichnete, und probte einmal meinen gesamten Auftritt. Dann spulte ich zurück und hörte ihn mir an. Es klang, als wollte ich mit meinem eigenen Vortrag so wenig wie möglich zu tun haben, so schnell haspelte ich ihn herunter.
Ich rief Mark Anthony Ramirez an, den Mentor, den mir die Veranstalter des Wettbewerbs zugewiesen hatten. Jeder Journalist bekam einen professionellen Komiker als Berater zur Seite gestellt, der ihm Fragen zum Auftritt beantworten konnte. Mark Anthony war in jedem größeren Comedy-Club in New York aufgetreten, daher traute ich seinem Urteil.
»Das Wichtigste ist, dass du Selbstbewusstsein ausstrahlst, während du auf der Bühne stehst«, sagte Mark Anthony.
»Aber ich bin nicht selbstbewusst, wenn ich auf der Bühne stehe.«
»Dann tust du eben so. Das entwickelt dann schon eine gewisse Eigendynamik. Wenn die Zuschauer merken, dass du nicht selbstbewusst bist, hast du sie schon verloren.«
»Vielleicht lachen sie ja auch aus Mitleid?«, hoffte ich.
»Wenn der Komiker nervös ist, wird das Publikum auch nervös. Die Leute lachen aber nur, wenn sie entspannt sind, und sie sind eben bloß entspannt, wenn da vorne jemand steht, der souverän wirkt.«
»In die Hose scheißen kommt also nicht in Frage?«
Er lachte. »Du schaffst das schon. Aber sieh zu, dass du deinen Auftritt vorwärts und rückwärts herbeten kannst. Denn wenn du erst mal auf der Bühne stehst, bist du so daneben, dass du wahrscheinlich den einen oder anderen Blackout hast.«
Blackout? Meine Spezialität. Stand-up-Comedy war eine der schlimmsten Formen der öffentlichen Rede, denn man konnte nicht einfach auf die Bühne klettern mit einer groben Vorstellung davon, was man sagen will. Bei einem Comedy-Auftritt musste man die Witze in so wenig Sätze wie möglich verpacken, sonst verlor das Publikum schnell die Geduld. Die Formulierungen mussten haarscharf sitzen. Wenn man eine Zeile vergaß oder ein Wort an eine andere Stelle rutschte, konnte der Witz schon im Eimer sein. Sechs Minuten – das war eine Menge Material zum Auswendiglernen. Mark Anthony ließ mich den Text am Telefon einmal ganz vorlesen.
»Eines kann ich dir schon mal sagen«, meinte er, als ich fertig war. »Von allen Leuten, die ich in den letzten paar Jahren auf diesem Wettbewerb gesehen habe, bist du bei Weitem die Anzüglichste und Provokanteste. Es ist riskant. Ich hoffe, du kommst damit durch.«
Der Fernseher dröhnte so laut, dass man ihn bis auf den Flur hörte, und ich klopfte kräftig. Als Matt mir die Tür aufmachte, trug er Boxershorts mit aufgedruckten Bulldoggen und die Brille mit dem Drahtgestell, die er nur aufsetzte, wenn er am Wochenende zu Hause abhing.
»Hey! Ich dachte, du bist zu Hause und probst für die Show!« Seine Miene wurde besorgt. »Alles okay, Schatz? Du siehst ein bisschen … erschöpft aus.«
Ich zwang mir ein Lächeln ab. »Mir geht’s gut!«, sagte ich ein wenig zu schnell. »Ich hab da bloß so eine Idee und wollte dich fragen, was du dazu meinst.«
Matt war der rationalste Mensch, den ich kannte. Wenn mein Gewissen menschliche Gestalt annehmen könnte und dazu auch noch schönes, volles Haar hätte, würde es so aussehen wie Matt. Wenn ich ihm mein Vorhaben verkaufen konnte, dann konnte ich es auch vor mir selbst rechtfertigen.
»Alle freuen sich schon total auf deinen Auftritt morgen«, sagte Matt, als ich mich auf sein Sofa fallen ließ. »Um wie viel Uhr müssen wir eigentlich da sein, um noch gute Plätze zu kriegen?«
Wie wär’s mit überhaupt nicht? , dachte ich. Wäre »nie« okay für euch? Ich ignorierte seine Frage und sagte stattdessen: »Hab ich dir eigentlich jemals erzählt, wann ich beschlossen habe, das Schreiben zum Beruf zu machen?«
Er schüttelte den Kopf.
»In meinem ersten Jahr an der High School sprachen wir im Englischunterricht über Satire. Der Lehrer teilte uns in Paare auf und gab uns die Aufgabe, einen Entwurf für einen eigenen satirischen Essay zu schreiben. Mein Partner war Jon, der Klassenclown. Er blödelte die ganze Zeit nur rum, also hab ich den Text am Ende allein geschrieben. Als es ans Vorlesen ging, las Jon die erste Hälfte und ich die zweite. Die Schüler lachten sich halbtot, als Jon an der Reihe war, aber mein Teil
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