Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
nach den ersten Sätzen blieb ich hängen. Oh Gott, ich stand noch nicht mal auf der Bühne und hatte schon den ersten Blackout! Ich umklammerte mein Skript so fest, dass die Seiten verknitterten. Diese Zettel waren mein Sicherheitsnetz. Wenn ich sie mit auf die Bühne nahm und ablas, konnte ich sicher sein, dass es keine peinlichen Lücken geben würde. Aber damit würde ich mich auch selbst ins Aus kicken. Alle anderen hatten ihren Auftritt auswendig gelernt. Es war ausgeschlossen, dass ich den Wettbewerb gewann, wenn ich mich auf meine Notizen stützte. Eine Produzentin von CNN kam als Nächstes. Sie brachte ihre Gags unheimlich lakonisch, und ihre Eröffnung lautete: »Darf ich Sie mal was fragen? Halten Sie es für falsch, sich mit Pizza und Eis vollzustopfen, während man sich The Biggest Loser anschaut?« Sie kassierte eine Menge Lacher mit ihrem Auftritt, aber ich schnaufte vor Aufregung so sehr, dass ich kaum etwas hörte.
Mark Anthony kam mit einem Bier von der Bar zurück und boxte mich freundschaftlich in die Seite. »So, Mädel, du bist die Nächste.«
Dr. Bob hatte mir einmal erzählt, dass Tiere wie Menschen einen Adrenalinschub erleben, wenn sie sich bedroht fühlen. Adrenalin verbessert die Leistung, es gibt uns die Energie, uns entweder mit aller Kraft in die Situation zu stürzen oder zu fliehen. Diese Reaktion ist unter dem Namen »Fight or Flight« bekannt. Kampf oder Flucht. Ich entschied mich für die Flucht.
»Ich kann nicht«, flüsterte ich Mark Anthony zu. »Ich bin noch nicht bereit.«
Er musterte mich einen Moment und rieb sich den Ziegenbart. »Okay, ich glaube, ich kann dich in der Reihenfolge ein bisschen weiter nach hinten verlegen, dann hast du noch etwas mehr Zeit.«
»Mach das. Bitte.« Er eilte davon, um den Moderator in Kenntnis zu setzen.
Bei dieser Fight-or-Flight-Reaktion geschieht auch noch etwas anderes: Das Blut, das den Magen versorgt, wird abgezogen und in die Muskeln gepumpt, wo es in diesem Moment am dringendsten gebraucht wird. Dieses Gefühl, wenn die Durchblutung im Magen schwächer wird, ist für die »Schmetterlinge im Bauch« verantwortlich. Die Verdauung wird vorübergehend ausgesetzt, was zu Durchfall führen kann. Sagen wir mal so – ich musste in diesem Augenblick ganz schön dringend zur Damentoilette.
Als der Moderator einen Good Morning America -Reporter als dritten Teilnehmer ansagte, warf mir Matt von seinem Platz einen verwirrten Blick zu.
Er formte mit den Lippen ein: »Was ist los?«
Mit einem Kopfschütteln bedeutete ich ihm, dass ich nicht darüber reden wollte, und sah weg. Ein paar Minuten später war Mark Anthony wieder da.
»Möchtest du als Nächste?«
Ich hob abwehrend eine Hand. »Ich bin immer noch nicht so weit.« Zehn Minuten später fragte er mich wieder.
Ohne von meinem Skript aufzusehen, antwortete ich: »Nein.«
»Noelle, schau mich mal an«, sagte er streng, doch als ich aufblickte, war sein Gesicht ganz freundlich. »Ich kann dich bis auf den siebten Platz nach hinten schieben, aber mehr geht dann wirklich nicht mehr. Du musst einfach da hoch und dein Ding durchziehen.«
Als Nächstes kam die Journalistin einer Indie-Zeitschrift mit einer pinken Rockstarperücke. Sie trug ein Elfenkostüm und ein trägerloses Paillettenkleid und hüpfte über die Bühne, wobei sie das Publikum anknurrte und ein Feuerwerk von schlechten Witzen losgehen ließ:
»Klopf klopf!«
»Wer ist da?«
»Die böse Kuh.«
»Welche böse Kuh?«
»Muuuuuh-ss ich das jetzt genauer erklären?«
Und das war noch einer von den besseren Gags. Das Publikum schwieg, abgesehen von ein paar vereinzelten tiefen Seufzern. Ich atmete tief durch, um meinen Puls wieder zu beruhigen. Mir fiel ein Gedicht ein, von dem Dr. Bob mir einmal erzählt hatte: »Das gastfreie Haus«. Es stammte von einem persischen Dichter des 13. Jahrhunderts namens Rumi. Dieser schlägt vor, dass wir unsere Gefühle als Gäste betrachten sollen, die unangekündigt bei uns auftauchen. Egal, wer auftaucht – Freude, Sorge, Kummer –, wir sollten sie alle bei uns willkommen heißen und sie bewirten, weil wir von jedem eine Menge lernen können.
»Stellen Sie sich Ihre Angst als Gast vor, der unangekündigt bei Ihnen auf der Schwelle steht. Laden Sie die Angst in Ihr Gästezimmer ein und hören Sie ihr zu. So viel sie auch jammern mag, irgendwann werden Sie merken, dass Sie sie einfach ausblenden und Ihrem Tagwerk nachgehen können. Akzeptieren Sie sie, seien Sie nett zu ihr. Wenn Sie
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