Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
sich mit Ihrer Angst anfreunden, wird es Ihnen nichts mehr ausmachen, wenn sie eines Tages wieder vor Ihrer Tür steht. Vielleicht freuen Sie sich sogar auf ihre Besuche.«
Und so lud ich die Angst in mein Haus. Ich hörte geduldig zu, wie sie meckerte und maulte. »Was, wenn du vergisst, was du sagen willst? Du wirst dastehen wie der letzte Vollidiot. Deine Freunde werden sich für dich schämen. Sie werden dich bemitleiden. Und was, wenn die älteren Zuschauer deine schmutzigen Witze unmöglich finden? Oder wenn du zu schnell sprichst oder das Mikro falsch hältst, sodass dich keiner hören kann? Vergiss nicht, dass du noch nie im Leben ein Mikro in der Hand gehabt hast.«
»Alles ist möglich«, erwiderte ich ruhig. »Aber ich glaube, es wird alles gut gehen. Ist doch fast immer so. Und wenn es wirklich total in die Hose geht, hab ich später eben eine gute Story zu erzählen.«
Bald merkte ich, dass die Angst sich wiederholte. Zuerst dachte ich, dass es eine Menge gab, wovor ich Angst haben musste. Aber dann kam sie mir immer und immer wieder mit denselben Sorgen. Ich fühlte mich nicht mehr so hilflos und konnte endlich entspannen. Ich konnte die Angst sogar ausblenden, wie Dr. Bob vorhergesagt hatte. Angst ist langweilig. Nach einer Viertelstunde hatte sie sich immerhin so weit beruhigt, dass ich es schon nicht mehr hörte, wie sie zur Tür hinausschlüpfte. Ich wusste, dass sie wiederkommen würde. Sie würde weiterhin unangekündigt auftauchen, vielleicht sogar für den Rest meines Lebens. Aber nachdem ich dieses Jahr so viel Zeit mit ihr verbracht hatte, verstand ich sie auch besser.
Plötzlich war ich an der Reihe. Der Moderator verkündete: »Sie ist freiberufliche Journalistin und hat für Zeitschriften wie Rolling Stone , Maxim und Us Weekly geschrieben. Begrüßen Sie mit mir Noelle Hancock …«
Mark Anthony klopfte mir auf den Rücken. »Komm, jetzt geh da raus und zeig’s ihnen!«
Ich faltete meine Zettel zusammen und schob sie in die Hosentasche. Als ich mir verlegen den Weg zur Bühne bahnte und mich seitlich drehte, um besser zwischen den Tischen durchzukommen, fing Matt meinen Blick auf und hob die gereckten Daumen. Chris und Jessica grinsten breit und winkten mir eifrig.
»Du machst das, Hancock!«, rief Bill.
Als ich die Bühne betrat, verschwanden meine Freunde mit dem Großteil des Publikums im Dunkeln, während ich im grellen Rampenlicht stand. Ich konnte nur die Leute sehen, die in den ersten beiden Reihen saßen, und das waren fast alles Eltern von Teilnehmern, die um die sechzig sein mochten. Viele sahen schon müde aus, manche stützten den Kopf auf. Ein paar Studenten lümmelten mit verschränkten Armen auf ihren schwarzen Holzstühlen.
Ich zog mir das Mikro unters Kinn und versuchte, selbstbewusst auszusehen. »Na, genießen Sie das Wetter?«
Die Stille im Saal war absolut. Das Publikum hatte langsam keine Lust mehr mitzumachen, das Mädchen mit der pinken Perücke hatte sie mit ihren ständigen Fragen erschöpft. Nach ein paar Sekunden johlte jemand zustimmend – wahrscheinlich Matt.
»Ich auch«, fuhr ich fröhlich fort. »Ich liebe den Herbst, denn ich hasse Bienen – und für die beginnt im Herbst ja die Nebensaison. Im Frühling und Sommer können Sie allerdings nie wissen, ob sich nicht gleich jemand zu Ihnen umdreht und sagt: ›Nicht bewegen, nicht bewegen! Du hast da ’ne Biene! Vorsicht, nicht bewegen jetzt!‹« Ich zog eine verwirrte Grimasse. »Nicht bewegen?? Hallo, auf wessen Seite stehst du eigentlich? Soll ich noch schön stillhalten, damit die Biene sich eine gute Vene aussuchen kann?« Die Zuschauer lachten, und ich fuhr ermutigt fort.
»Haben Sie sich schon mal gefragt, wer eigentlich den Honig entdeckt hat? Ich schon. Denn ich würde wirklich gern mal den Typen sehen, der sich vor ein Bienennest gestellt und gesagt hat: ›Hey, ich hab da ’ne tolle Idee. Du weißt doch diese gefährlichen Insekten da drüben – ich werde einfach in ihr Haus einbrechen und ihre ganzen Sachen klauen!‹ Das ist doch ungefähr so intelligent, wie bei den Latin Kings einzubrechen.« Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass nicht jeder diese Straßengang kannte, aber ich erzielte einen guten Lacher. »Bienen sind doch auch nichts anderes als winzige Gangmitglieder, oder? Immer in der Gruppe unterwegs, immer mit der Waffe in der Tasche. Bienen haben keine Ärsche – die haben Messer, wo sie ihre Ärsche haben sollten. Die Waffe ist gleich eingebaut! Also kommen Sie
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