Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
gerade die Wanderer ein, die heute den Marsch zum Gipfel des Kilimandscharo absolviert hatten. Sie sahen aus wie Zombie-Statisten aus dem »Thriller«-Video: weit aufgerissene Augen, steife Bewegungen und verdreckte Kleidung. Beim Abendessen stand ein Vierzehnjähriger vom Nachbartisch auf und ging wortlos nach draußen. Durchs Fenster sahen wir, wie er sich vorbeugte und sich dreimal übergab. Wenige Minuten später sahen wir eine staubbedeckte Frau, die sich rechts und links auf einen Träger stützte und sich wie ein verletzter Footballspieler in ihre Hütte bringen ließ. Henri fragte das deutsche Paar mit den verräterisch sonnenverbrannten Nasen neben uns, ob es auf dem Gipfel geschneit hatte. »Nein, aber es hat den ganzen Rückweg über gehagelt«, antwortete der Mann.
Hagel? Kein Mensch hatte mir was von Hagel gesagt! Und ein Helm war das Einzige, was ich nicht mitgebracht hatte. Keine Chance, dass ich es bis auf den Gipfel schaffte. Wie konnte ich morgen noch mal weitere 2100 Meter klettern? Heute hatte ich ja gerade mal 500 zurückgelegt. Ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich konnte einfach nicht. Ich musste zurück in die Hütte, aber zuerst musste ich aufessen, sonst hatte ich morgen nicht die nötige Energie. Also schaufelte ich mir die Nudeln in den Mund, kaute schnell und versuchte, es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Dabei biss ich mir heftig auf die Zunge. Aber ich machte weiter und schob die restlichen Nudeln mit einer Scheibe Toast auf dem Teller zusammen. Wieder biss ich mir auf die Zunge, und diesmal fing es an zu bluten. Da ließ ich meine Gabel auf den Teller fallen, schlug die Hände vors Gesicht und fing zu meinem großen Schrecken an zu weinen. Marie und Henri verstummten, so wie man das macht, wenn jemand, den man nicht sehr gut kennt, anfängt zu weinen und man nicht recht weiß, ob man ihn in Ruhe lassen oder fragen soll, was mit ihm los ist. Ich wischte mir die Tränen ab, versuchte ein gefasstes Gesicht zu machen und stand auf.
»Ich hab fertig gegessen«, verkündete ich und lief aus dem Speisesaal zu meiner Hütte. Wenige Minuten später, als ich gerade auf dem Höhepunkt eines reinigenden Weinkrampfs war, klopfte es an der Tür. Beim Ausheulen unterbrochen zu werden ist ungefähr so, als würde man beim Masturbieren gestört werden oder würde sich versehentlich die Ohrstöpsel aus den Ohren reißen, wenn ein gutes Lied läuft. Für einen kurzen Moment spürte ich Ärger in mir hochsteigen und öffnete die Tür – in der Erwartung, Marie und Henri auf der Schwelle zu finden. Doch es war Dismas. Sie mussten ihm etwas gesagt haben.
»Miss Noelley, sind Sie krank?« Er runzelte besorgt die Stirn.
»Nein, ich bin nicht krank.«
»Kein Kopfweh? Kein Erbrechen?«
»Es geht mir wirklich gut. Bitte, ich muss einfach nur ein bisschen allein sein.«
»Dann bis morgen.« Er hob grüßend die Hand zum Käppi und ging davon. Ich schloss die Tür und merkte, wie sich mein Gesicht wieder verzog, mit vorgeschobenen Lippen, zitterndem Kinn und zusammengezogenen Augenbrauen. Ich lehnte mich vor und ergab mich in lautes Schluchzen, das meinen ganzen Körper schüttelte. Als ich mich für diesen Trip angemeldet hatte, wusste ich, dass es wichtig war, allein zu kommen, damit ich meinen Freund oder Freunde nicht als Krücke benutzen konnte. Aber jetzt überwältigte mich auf einmal das Heimweh. Ich vermisste Matt und Jessica und Chris und Con Edison, die Firma, die mich mit Gas für meine Heizung belieferte. Nie wieder werde ich einen von euch für selbstverständlich nehmen! Aber vor allem fehlte mir der Schlaf. Ich war seit sechs Tagen von zu Hause fort und konnte kaum glauben, dass es nochmals fünf Tage dauern würde, bis ich wieder zu Hause war. Da fiel mir etwas ein, was Chris letzte Woche gesagt hatte.
»Ich weiß, die Zeit kommt dir jetzt lang vor, aber ich werde dir ein kleines Geheimnis aus meiner Zeit im Ruderteam am College erzählen.« Wie er mir erklärte, hatte er in seiner Zeit in der Yale-Mannschaft des Öfteren Tests auf einer Rudermaschine absolvieren müssen. »Das war eine Stunde lang die größte Anstrengung, die man sich überhaupt ausmalen kann, und ich sagte mir jedes Mal: ›Egal, was passiert, in einer Stunde ist es vorbei.‹ Ob ich nun versagte oder eine tolle Leistung ablieferte oder mir so etwas Blödes passierte wie eine Muskelzerrung, es gab einfach eine Zeit in der näheren Zukunft, in der ich diese Aktivität nicht mehr
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