Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
ausüben würde. Eine etwas erbärmliche Sicht auf die Dinge, aber sie funktioniert. Und vergiss nicht«, fügte er hinzu, »wenn es wirklich ganz übel wird, dann lass es am Führer aus. Dazu sind sie da.«
Irgendwie bizarr, dass ich gerade mein Abendbrot gegessen hatte, während Chris, Jessica, Bill und Matt noch nicht mal zu Mittag aßen. Dass es bei ihnen Sommer war und hier Frühling. Als ob sie in einem Paralleluniversum lebten oder ich eine Zeitreise unternommen hätte – was ich ja wohl auch getan hatte. Ich lebte in der Zukunft. Als ich noch klein war, war mein Vater oft dienstlich nach China gefahren. Wenn er anrief, fragte ich ihn immer als Erstes: »Was für ein Tag ist bei euch?« Der Gedanke, dass es in Houston Montag war, er mich aber vom Dienstag aus anrief, hatte für mich etwas unglaublich Aufregendes. Jetzt machte es mich eher traurig – alle, die ich liebte, waren Teil der Vergangenheit.
Ich erlaubte mir noch zehn Minuten, dann war es überstanden. Um mich weiter zu beruhigen, wiederholte ich Eleanors Zitat wie ein Mantra: »Man muss die Dinge tun, von denen man glaubt, dass man sie nicht tun kann.« Marie und Henri waren so nett, noch ein wenig im Speisesaal sitzen zu bleiben, sodass ich Zeit hatte, mich wieder zu sammeln. Als sie kamen, lächelte ich, und wir betrieben höflich Konversation bis zum Schlafengehen.
Der Akklimatisierungstag hatte anscheinend funktioniert. Ich war überhaupt nicht mehr kurzatmig, als Dismas und ich am nächsten Morgen über den rötlich-grauen Sand der Alpinen Wüste zur Kibo Hut wanderten. Henri und Marie hatten von Anfang an wieder ein halsbrecherisches Tempo vorgelegt und waren weit voraus. Die Landschaft sah aus wie auf dem Mars: keine Bäume, nur ein paar vereinzelte Felsen, von denen keiner höher als 30 Zentimeter war. Und vor uns ragte der Kili auf. Obwohl wir noch Stunden vom Gipfel entfernt waren, konnte ich schon den Weg erkennen, der steil den Berg hinaufführte und dem wir noch heute Nacht folgen würden. Er war heller als der restliche Berg, nachdem jahrelang Hunderttausende von Stiefeln darauf entlanggetrampelt waren. Die Temperatur sank, und ich trug inzwischen mehrere Kleidungsschichten, meinen dicksten Mantel und Handschuhe.
Da kam etwas auf uns zugerollt. Es war ein Mann, einer von den Wanderern, die vom Gipfel zurückkamen. Er wurde auf einer dreirädrigen, schubkarrenähnlichen Bahre heruntergefahren und lag in seinem Schlafsack wie ein Pharao, das Gesicht war kaum zu sehen. Als sie an uns vorbeikamen, wechselte Dismas mit einem der Träger ein paar Worte auf Kiswahili.
»Er hatte starkes Kopfweh«, übersetzte Dismas für mich. »Hat das Gleichgewicht verloren und konnte nicht gehen.« Ich nickte und versuchte, nicht an die Statistik zu denken, laut der jeden Monat ein Wanderer an einem Hirnödem starb. Hirnödeme, die man sich durch die Höhenkrankheit zuzog, waren oft tödlich, weil sie sofortige ärztliche Behandlung erforderten und normalerweise erst in den größten Höhen auftraten, wenn man schon seit mehreren Tagen unterwegs war. Der Abstieg zur nächsten medizinischen Versorgungsstation war lang und gefährlich.
Ich wechselte das Thema: »Verschwinden die Gletscher eigentlich wirklich?«
»Ja. In zwanzig Jahren? Ist nichts mehr da«, sagte er feierlich. Er zeigte auf den Fuß der Berges. »Sehen Sie das weiße Dach? Das ist Kibo Hut. Die Gletscher gingen früher bis da unten.« Ich wusste zwar, dass gerade Trockenzeit war, aber ich war doch schockiert, wie wenig Schnee lag. Der Berg war völlig braun, bis auf einen traurigen kleinen Gletscher, der leicht nach links verrutscht wie ein zu kleines Toupet auf dem Gipfel hing.
Als wir zum Mittagessen rasteten, war auch der Querschnittsgelähmte da und wartete geduldig, während seine Freunde ihn abwechselnd fütterten. Sieben Stunden nachdem wir Horombo verlassen hatten, erreichten wir Kibo Hut auf 4700 Metern Höhe, das letzte Lager vor dem Gipfel. Im Gegensatz zu den anderen Lagern, die einzelne Hütten hatten, gab es in Kibo nur ein Gemeinschaftshaus, ein primitives Steingebäude mit einem Blechdach, das in der Sonne glänzte. Drinnen lagen die Schlafsäle mit den Stockbetten rechts und links eines langen Flurs. Am Ende des Korridors befand sich ein kleiner Speisesaal mit Esstischen, an denen die Wanderer um 17 Uhr ein leichtes Abendessen einnehmen würden, um dann, nach ein paar Stunden Schlaf, noch einen Mitternachtssnack zu essen, bevor sie zum Gipfel aufbrachen. Es gab
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