Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
unserer Hütte trat, um sich vor dem Schlafengehen die Zähne zu putzen, verfielen Henri und ich in verlegenes Schweigen, wie immer, wenn wir allein miteinander blieben. Er versuchte, unsere kaputte Tür mit meinem Schweizer Armeemesser zu reparieren, das ich hauptsächlich deswegen eingepackt hatte, weil es eine Nagelfeile hatte. Ich legte mich auf meine Lagerstatt und betrachtete die eingeritzten Graffiti im Holz über mir. Horombo lag genau in der Mitte der Strecke, das heißt, die Wanderer übernachteten hier sowohl beim Aufstieg als auch auf dem Rückweg. Daher bot dieses Lager auch Platz für hundertzwanzig Wanderer, zweimal so viele wie Mandara und Kibo. An den Hüttenwänden hatten unsere Vorgänger ihre Impressionen vom Aufstieg eingeritzt. Ein anonymer Wanderer nannte den Weg zum Gipfel »ganz schön mies«, aber wie er hinzufügte, »der Ausblick war’s wert«. Shana Theobald schrieb am 20. Juli 2007: »Die Schmerzen halten nicht lange an, aber der Stolz währt für immer. Der Sieg des Geistes über die Materie – du schaffst es!« Oder auch weniger sentimental: » JM + BK « empfahlen mir: »Hau rein oder hau ab!«
Marie und Henri hatten ein Digitalthermometer mitgebracht, und wir hatten inzwischen ein Ritual daraus gemacht, nachts die Innentemperatur unserer Hütte zu messen. Heute zeigte es drei Grad. Während Marie und Henri sich fürs Bett fertigmachten, quasselten die Wanderer in der benachbarten Hütte über die Erlebnisse des Tages und lachten ab und zu über einen Witz.
»Na, hoffentlich sind die Partytiere nebenan bald leise«, grummelte Marie, als sie in ihren Schlafsack kroch. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war 19 Uhr, und ich kam mir vor wie eine Gefangene. Diesmal lag ich sechseinhalb Stunden wach. Auf meinem dritten Klogang zog ich die knarrende Tür unserer Hütte auf, die Henri doch nicht hatte reparieren können, und schlurfte zu den Damenwaschräumen. Der Boden war hier unebener als in Mandara, also ging ich möglichst breitbeinig, um das Gleichgewicht besser halten zu können. Im Waschraum stellte ich fest, dass jemand einen Kampf gegen den Durchfall ausgefochten (und anscheinend verloren) hatte.
Auf dem Rückweg zur Hütte glitt ich mit dem linken Fuß auf einem Stein aus und fiel hintenüber. Ich landete auf Handflächen und Hintern, blickte in den Himmel und schnappte erstmal nach Luft. Dann richtete ich mich ein wenig auf und starrte nach oben. Bei aller Schwärze hatte der Himmel etwas Strahlendes, und die Sterne schienen hell und klar. Ich musste daran denken, wie die Skyline von New York an jenem Abend vor fast einem Jahr geglitzert hatte, als ich auf dem Trapez hin und her schwang, wie die kleinen Lichtvierecke sich vom Himmel abgehoben hatten. Aber das hier! Das hier sah aus wie ein Foto aus dem Weltraum. Das Licht bewegt sich auf einer geraden Linie durch den Raum. Erst die Atmosphäre bricht und streut das Licht und sorgt für verschwommenes Sternenlicht und blauschwarze Farben, was die Bewohner der Regionen auf Meeresspiegelhöhe als Nachthimmel erleben. Hier oben war die Atmosphäre jedoch dünner, mit weniger Staubpartikeln und Gasmolekülen, die einem die Sicht verderben konnten. Wir waren näher am Licht, aber auch stärker in Dunkelheit gehüllt.
Jeden Morgen wartete ich, bis Henri und Marie zum Frühstück gegangen waren. Dann zog ich mich in der drei Grad warmen Hütte nackt aus und »duschte« mit zusammengebissenen Zähnen, indem ich mich mit Feuchttüchern abwischte. Der Mensch muss sich ein gewisses Maß an Zivilisiertheit bewahren, auch wenn er sich die Achselhöhlen trocken rasiert. Was mich zu einer anderen Hygienefrage bringt. Zum Thema Altern machte Catherine Deneuve einmal die berühmte Bemerkung: »Eine dreißigjährige Frau muss sich zwischen ihrem Gesicht und ihrem Hintern entscheiden.« Die Theorie dahinter lautet: Man kann entweder dünn sein oder ein jugendliches Gesicht haben – beides gleichzeitig geht nicht. Mein Dreißigster war erst in einem Monat, aber ich musste mich jetzt schon zwischen Gesicht und Hintern entscheiden. Meine Nase war der Meinung, es sei Winter, und lief nonstop, seit wir den Regenwald verlassen hatten. Mein Toilettenpapiervorrat schwand zusehends dahin. Wenn ich es weiter zum Naseputzen benutzte, würde es niemals für die gesamte Expedition reichen. Ich entschied mich also für mein extrasaugfähiges Reisegesichtshandtuch als Alternative. Im Grunde fand ich das eklig, aber genauso eklig war mir der Gedanke, mir
Weitere Kostenlose Bücher