Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
während sie einen Handstand auf der Tragfläche machte.«
Wir verabschiedeten uns, und während wir zum Long Island Expressway zurückfuhren, rief ich auf einmal:
»Hey, Moment mal! Ich hab mein Rufzeichen gar nicht bekommen!«
»Dein was?«
»Boom hat gesagt, dass ich hinterher meinen Kampfpilotennamen kriegen würde. Er muss es ganz vergessen haben.«
»Dann ruf ihn doch an und frag.«
Ich zuckte zusammen. Ich hatte noch nie gern Fremde angerufen – ich weiß, ich weiß, das ist ein lächerliches Geständnis von einer ehemaligen Reporterin. Aber ich hatte als Jugendliche schon Jahre gebraucht, bis ich mir unbekümmert eine Pizza beim Lieferservice bestellen konnte. Als ich älter wurde, wurde es viel besser, aber dann fielen uns E-Mails und SMS in den Schoß, die perfekte Ausflucht für Telefonfeiglinge. In den letzten paar Jahren, als sich mein Leben noch mehr zum Schreiben und zum Internet hin verlagert hatte, war ich wieder zu dem Kind geworden, das am liebsten seine Eltern bitten würde, in seinem Auftrag irgendwo anzurufen.
Ich hatte in der nächsten Woche also mehrfach den Hörer in der Hand, um Boom anzurufen. Schließlich kniff ich doch. Ich ging auf die Website von Air Combat USA , mailte die Frau an, die als Webmaster angegeben war, und bekam Booms Mailadresse von ihr. Nach ein paar Zeilen im Stile von »Äh, hallo, erinnern Sie sich noch an mich?«, stellte ich schließlich die Frage: »Wie ist denn nun mein Rufzeichen?«
Ein paar Tage später kam die Antwort. »Obwohl Sie am Anfang gebibbert haben, haben Sie sich am Ende gut geschlagen«, schrieb Boom. »Sie waren sogar so aggressiv, dass ich Sie ausbremsen musste. Deswegen sollen Sie von nun an in Fliegerkreisen als Die Furchtlose bekannt sein. Ich hoffe, Sie fliegen wieder einmal mit mir, denn dann kann ich hinterher schreien: ›Furchtlose, die Runde geht auf dich!‹«
Einen Moment starrte ich diese Mail an und lächelte. Ich fühlte mich zwar ein bisschen feige, weil ich gemailt hatte, statt anzurufen, aber jetzt war ich dankbar, dass ich diese Worte für immer aufheben konnte.
Und dann wollte ich noch Wiedergutmachung betreiben. Ich griff zum Telefon, und als am anderen Ende abgenommen wurde, sagte ich: »Mama? Du glaubst ja gar nicht, was ich gerade für eine Mail bekommen habe …«
7. K APITEL
Ich kann mir mein Leben so einrichten, dass
ich immer mit dem zurechtkomme, was ich
habe. Wenn ich nicht so leben kann, wie ich
in meiner Vergangenheit gelebt habe, dann
werde ich eben anders leben. Und wenn ich
anders lebe, bedeutet das nicht, dass ich den
Dingen, die das Leben schön machen, weniger
Aufmerksamkeit schenke oder die geistigen
Freuden weniger genießen kann.
Eleanor Roosevelt
D er Herbst verging rasch. Ebenso wie mein Jahr der Angst. Ich stellte mich einer bunten Mischung an Herausforderungen. Ich nahm Unterricht im Poledancing. Jessica hatte es abgelehnt, mich zu begleiten (»Tut mir leid, Noelle, aber ich hab auch meine Grenzen.«). Ich hatte hinterher einigen Respekt vor den hart arbeitenden Damen der Erotiktanzbranche. Trotz meiner lebenslangen Angst vor Nadeln unterzog ich mich einer Akupunktursitzung, eine grässliche Stunde, in der ich unter Schmerzen zusah, wie ein Mann Nadeln in meine Füße und die dünne Haut zwischen meinen Zehen stach. Ich ging noch einmal zur Trapezschule und trainierte zwei Monate lang für einen Auftritt, bei dem ich – im Kostüm – vor Hunderten von Leuten auftrat.
Dann lief ich zwei Wochen lang ohne Make-up herum. Wenn das für Sie nicht beängstigend klingt, dann sind Sie sicher nicht aus Texas. In Texas geht man nur mit »zurechtgemachtem Gesicht« aus dem Haus, sonst könnte man gleich ganz ohne Gesicht gehen – was ein gleiches Maß an Ekel bei den Leuten hervorrufen würde, als wenn man kein Make-up trüge. Als Freiberuflerin hatte ich Tage, an denen der einzige Mensch, mit dem ich es zu tun hatte, der Kerl im Lebensmittelgeschäft an der Ecke war. Trotzdem ertappte ich mich dabei, dass ich Make-up auflegte, wenn ich mir bloß ein Sandwich kaufen ging. Und ich begriff: Nachdem ich über fünfzehn Jahre Make-up getragen hatte, empfand ich mein geschminktes Gesicht als mein echtes Gesicht. Ohne Make-up fühlte ich mich verletzlich, irgendwie weniger wert. Also beschloss ich, damit aufzuhören, bis ich Frieden mit meinem Gesicht gemacht hatte. Meine Mutter, die in den ersten zwei Jahren ihrer Ehe sogar geschminkt ins Bett gegangen war, war erschüttert. Als sie hörte, dass ich
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