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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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jene Rolle erklären wollten, historisch weit, möglicherweise sehr weit zurückblicken.
    Klingt einleuchtend, oder? Der Historiker Kenneth Pomeranz, dessen Buch
The Great Divergence
ich in der Einleitung bereits erwähnt habe, besteht darauf, dass Adam Smith und alle Lobredner des Westens, die ihm gefolgt seien, die falschen Dinge miteinander verglichen. China sei so groß und vielfältig wie der gesamte Kontinent Europa. Insofern sei es kein Wunder, dass England die meisten Punkte mache, wenn wir diese zu Smiths Zeiten entwickeltste Region Europas isoliert betrachteten und als solche dann mit dem durchschnittlichen Entwicklungsstand in ganz China verglichen. Aus dem gleichen Grund würde, wenn wir eine Gegenprobe anstellten und die Mündungsregion des Jangtse (um 1770 die in China weitest entwickelte Region) mit dem durchschnittlichen Entwicklungsstand Europas verglichen, dieses Delta besser dastehen als England. Dabei hätten beide Regionen, so Pomeranz, im 18. Jahrhundert mehr miteinander gemein gehabt (nämlich beginnende Industrialisierung, aufstrebende Märkte, komplexe Teilung der Arbeit) als England mit unterentwickelten Teilen Europas oder das Jangtse-Delta mit unterentwickelten Regionen Chinas. All das führt Pomeranz zu dem Schluss, dass Theoretiker, die von einer langfristigen Determiniertheit der westlichen Vorherrschaft ausgingen, schlampig dächten und das Pferd vom Schwanz her aufzäumten. Wenn England und das Jangtse-Delta im 18. Jahrhundert tatsächlich so viel gemeinsam hatten, dann müsse man die Erklärung der westlichen Vorherrschaft irgendwann
nach
diesem Datum suchen und nicht davor.
    Eines ist klar: Wenn wir wissen wollen, warum der Westen die Welt regiert, müssen wir vor allem herausfinden, wer und was »der Westen« ist. Und schon geraten die Dinge durcheinander. Die meisten von uns haben ein Bauchgefühl für das, was »den Westen« eigentlich ausmacht. Manche setzen ihn gleich mit Demokratie und Freiheit, andere mit dem Christentum, wieder andere mit säkularem Rationalismus. Der Historiker Norman Davies stieß auf nicht weniger als zwölf verschiedene Definitionen des Westens. Allen gemeinsam sei, was Davies deren »elastische Geographie« nennt. Jede dieser Definitionen gebe dem Westen eine unterschiedliche Gestalt, und eben das schaffe die von Pomeranz monierte Verwirrung. Der Westen, so Davies, »kann von seinen Verfechtern auf so gut wie jede Art definiert werden, die ihnen geeignet scheint« – mit der Folge, dass das, was sie als »westliche Zivilisation« betrachten, nichts anderes sein könne als »ein Amalgam intellektueller Konstrukte, das darauf angelegt ist, das Beweisinteresse des jeweiligen Autors zu stärken«. 4
    |49| Sollte Davies recht haben, dann würden Autoren, die der Frage nach der westlichen Vorherrschaft nachgehen, nichts anderes tun, als einige zufällige Werte herauszupicken, die den »Westen« definieren, und anschließend zu behaupten, bestimmte Länder verkörperten diese Werte. Diese Länder würden dann mit einer Gruppe ebenso zufällig herausgegriffener »nicht-westlicher« Länder verglichen. Auf diesem Weg kann man in der Tat zu jedem Schluss gelangen, der den eigenen Absichten dienlich ist. Das Ganze gilt auch umgekehrt. Jeder, der so gewonnene Schlussfolgerungen ablehnt, könnte seinerseits andere Werte herausgreifen, die seiner Meinung nach »Westlichkeit« definieren, könnte eine andere Gruppe von Ländern benennen, die diesen Wert verkörperten, ebenso eine andere Vergleichsgruppe, und schon würde er zu einer anderen, aber nicht weniger interessegeleiteten Schlussfolgerung gelangen.
    Kein großer Gewinn also. Darum möchte ich einen anderen Weg einschlagen. Anstatt vom Ende des historischen Prozesses auszugehen und von Annahmen darüber, was zu den Werten des Westens gezählt werden muss, und erst dann in der Zeit zurückzublicken und nach den Wurzeln dieser Werte zu suchen, möchte ich tatsächlich mit dem Anfang des historischen Prozesses einsetzen, mich dann in der Zeit voranbewegen, bis wir jenen Punkt erreichen, an dem wir in unterschiedlichen Teilen der Welt je unterschiedliche Formen des Lebens entstehen sehen. Den geographisch westlichsten Teil dieser unterschiedlichen Regionen werde ich den »Westen« nennen, den östlichsten den »Osten«, beide also als das behandeln, was sie sind, nämlich als geographische Bezeichnungen und nicht als Werturteile.
    Zu erklären, wir müssten am Anfang beginnen, ist eine Sache; eine ganz andere ist

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