Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Vorfahren die geistig weniger begabten Arten aktiv vernichtet oder sie im Wettbewerb um Ressourcen einfach nur überholt und verdrängt haben. An |77| den meisten Fundstätten lösen die Hinterlassenschaften der modernen Menschen die der Neandertaler einfach ab. Das spricht für einen plötzlichen Wandel. Eine bedeutende Ausnahme bildet die Grotte du Renne (Rentierhöhle) bei Arcy-sur-Cure im französischen Burgund. Die Spuren einer Nutzung durch Neandertaler wechseln sich in den 33 000 bis 35 000 Jahre alten Schichten mit solchen ab, die moderne Menschen hinterließen. Zu den Relikten aus Neandertalerschichten gehören auch Steinfundamente für Hütten, Knochenwerkzeuge und Halsschmuck aus Tierzähnen. Die Ausgräber dieser Höhle gehen davon aus, dass die Neandertaler von den modernen Menschen gelernt haben und dass sich so etwas wie eine Dämmerung des Neandertalerbewusstseins ankündigte. Diverse Ockerfunde in Siedlungsstätten der Neandertaler in Frankreich (in einer der Höhlen über 20 Pfund) scheinen das zu bestätigen.
Wir können uns die muskelbepackten, langsam denkenden Neandertaler vorstellen, wie sie die wendigeren, gesprächigen Neuankömmlinge beobachteten, deren bemalte Körper, den Bau von Hütten bewunderten und sich anschließend mit ungeschickten Händen mühten, es diesen nachzutun, vielleicht sogar versuchten, frisch gejagtes Fleisch gegen Schmuck zu tauschen. Jean Auel hat sich in ihrem Roman
Ayla und der Clan des Bären
vorgestellt, wie die modernen Menschen die Neandertaler, »die Flachköpfe«, verjagt haben, während diese wiederum alles daran setzten, den »Anderen« aus dem Weg zu gehen – ausgenommen Ayla, das fünfjährige Menschenmädchen, das der Bärenclan der Neandertaler adoptiert hat. Natürlich ist das Fiktion, aber darum nicht weniger plausibel als alle anderen Vermutungen auch – es sei denn, wir folgten den unromantischen Archäologen, die da sagen, schlampige Grabungen seien die einfachste Erklärung dafür, dass in der Grotte du Renne Neandertalerschichten und solche moderner Menschen einander ablösten; sie sehen keinen Beweis dafür, dass die »Flachköpfe« von den »Anderen« gelernt hätten.
Entscheidend ist der Sex. Wenn sich die anatomisch modernen Menschen im Westen der Alten Welt an die Stelle der Neandertaler, im Osten an die des
Homo erectus
gesetzt haben, ohne sich mit diesen zu mischen, dann können die auf Rassebegriffen basierenden Theorien, die die aktuelle Vorherrschaft des Westens auf bereits in der Vorgeschichte bestehende biologische Differenzen zurückführen, nur falsch sein. Was aber geschah tatsächlich?
Zu Hochzeiten des so genannten wissenschaftlichen Rassismus in den 1930er Jahren behaupteten einige Anthropologen, dass anatomisch moderne Menschen aus China primitiver seien als solche aus Europa. Ihre Begründung: Die Schädel der Ostmenschen wiesen Ähnlichkeiten mit denen des Peking-Menschen auf (kleine Wülste auf dem Schädeldach, vergleichsweise flache obere Partien des Gesichts, schaufelförmige Schneidezähne). Dieselben Anthropologen betonten auch, dass die Schädel der Ureinwohner Australiens Ähnlichkeiten mit dem eine Million Jahre alten indonesischen
Homo erectus
zeigten (Knochenwülste am Hinterkopf, an denen die Nackenmuskulatur ansetzte, vorspringende Augenbrauen, |78| fliehende Stirn, große Zähne). Darum, so die Schlussfolgerung dieser (westlichen) Anthropologen, müssten die modernen Menschen des Ostens von diesen primitiveren Affenmenschen abstammen, die im Westen dagegen von den fortgeschritteneren Neandertalern; und das wiederum könnte erklären, warum der Westen die Welt regiere.
Derart simpel argumentiert heute niemand mehr. Doch wenn wir der Frage nach der westlichen Vorherrschaft ernsthaft nachgehen wollen, müssen wir die Möglichkeit berücksichtigen, dass
Homo sapiens
sich mit vormodernen Menschen gekreuzt hat und Populationen im Osten biologisch weniger entwickelt gewesen sein könnten als die im Westen. Wir werden kaum Beilager ausgraben können, die uns bewiesen, dass
Homo sapiens
im Westen seine Gene mit denen des Neandertalers beziehungsweise im Osten mit denen des Peking-Menschen vermischt hat. Zum Glück ist das aber auch nicht erforderlich, denn wenn es zu solchen amourösen Treffen tatsächlich gekommen ist, dann müssten die Folgen noch in unseren Körpern festzustellen sein.
Denn alle Vorfahren, die wir je hatten, haben uns Bestandteile ihrer DNA vererbt, sodass Genetiker, zumindest theoretisch,
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