Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
Vom Netzwerk:
Befunde besser, sondern beschleunigt sich auch der Wandel, also messe ich alle 500 Jahre. Und zwischen 2500 v. u. Z. und 1500 u. Z. reduziere ich den Abstand auf 250 Jahre; von 1400 bis 2000 dann messe ich alle 100 Jahre.
    Das birgt natürlich Risiken. Vor allem wird der gesellschaftliche Wandel, je weiter zurück wir in der Geschichte gehen, als umso ruhiger und gradueller erscheinen. Wenn wir unsere Punktwerte nur alle 1000 oder 500 Jahre bestimmen, können wir durchaus interessante Wendepunkte verfehlen. Die bittere Wahrheit jedoch ist, dass wir unsere Daten nur ganz selten sehr viel präziser datieren können als in Zeitabschnitten, wie ich sie vorschlage. Ich will das Problem nicht verleugnen und werde mich bemühen, in der narrativen Darstellung in Kapitel 4 bis 10 so viele Lücken wie möglich zu schließen, doch der Rahmen, den ich hier anwende, erscheint mir als bestmöglicher Kompromiss zwischen Praktikabilität und Genauigkeit.
    Die zweite Frage lautet: Wo soll man messen? Vielleicht ist Ihnen beim Lesen der letzten Abschnitte aufgefallen, wie zurückhaltend ich war, den Teil der Welt anzugeben, von dem ich gerade sprach, als ich die Zahlen für »Westen« und »Osten« generiert habe. An manchen Stellen war von den Vereinigten Staaten die Rede, an anderen von Großbritannien, manchmal von China, dann wieder von Japan. In Kapitel 1 habe ich die Klage des Historikers Kenneth Pomeranz über seine Kollegen zitiert, die in der Frage, warum der Westen die Welt regiert, insofern schlampten, als sie das kleine England mit dem riesigen China verglichen und daraus den Schluss zögen, der Westen habe bereits um 1750 u. Z. geführt. Man müsse, insistierte Pomeranz, stets gleich große Einheiten vergleichen. Mit den Kapiteln 1 und 2 habe ich darauf reagiert, indem ich als »Westen« und »Osten« ausdrücklich die Gesellschaften definiert habe, die von den ursprünglichen Ackerbaurevolutionen im Fruchtbaren Halbmond beziehungsweise in den Tälern des Jangtse abstammen. An dieser Stelle nun muss ich einräumen, dass ich damit Pomeranz’ Problem nur zum Teil gelöst habe. In Kapitel 2, in dem ich die enorme Expansion der westlichen und östlichen Kulturzonen beschrieben habe, die in den rund 5000 Jahren nach Beginn der Kultivierung stattfand, konnte ich nicht umhin, auch auf die Unterschiede in der gesellschaftlichen Entwicklung einzugehen, die zwischen den Kerngebieten im Fruchtbaren Halbmond oder im Jangste-Tal einerseits und Randgebieten wie Nordeuropa oder Korea andererseits bestanden. Auf welche Teile des Ostens oder des Westens also sollen wir uns konzentrieren, wenn wir Punktwerte für den Index gesellschaftlicher Entwicklung festlegen?
    |164| Wir könnten versuchen, beide Zonen jeweils insgesamt in den Blick zu nehmen, was allerdings bedeuten würde, dass zum Beispiel in den westlichen Punktwert für das Jahr 1900 u. Z. die rauchenden Fabriken und die ratternden Maschinengewehre des industrialisierten England ebenso eingehen würden wie etwa Russlands Leibeigene, Mexikos Tagelöhner oder Australiens Rancher. Wir müssten uns eine Art Durchschnittswert für die Entwicklung des Westens ausdenken, das gleiche für den Osten versuchen – und dieses Strickmuster dann auf alle früheren Zeitpunkte der Geschichte übertragen. Das wäre ziemlich kompliziert und erwiese sich zudem nicht nur als unpraktikabel, sondern, wie ich befürchte, auch als unsinnig. Wenn es darum geht, die westliche Führung zu erklären, sind die entscheidenden Antworten von einem Vergleich der am weitesten entwickelten Teile jeder Region zu erwarten, von einem Vergleich der jeweiligen Kerngebiete, die von den dichtesten politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Interaktionen konstituiert wurden. Der Index gesellschaftlicher Entwicklung muss Veränderungen innerhalb dieser Kerngebiete messen und vergleichbar machen.
    Wie wir in den Kapiteln 4 bis 10 sehen werden, haben sich diese Kerngebiete im Lauf der Zeit verschoben und verändert. Von 11   000 v. u. Z. bis um 1400 u. Z. war der Kern des Westens geographisch ziemlich stabil, nämlich das östliche Ende des Mittelmeers – ausgenommen die Zeit zwischen 250 v. u. Z. bis 250 u. Z., als das Römische Reich, von Italien ausgehend, das Kerngebiet nach Westen zog. Ansonsten lag es stets im Dreieck zwischen den heutigen Staaten Irak, Ägypten und Griechenland. Seit 1400 u. Z. verlagerte sich das Kerngebiet unaufhörlich nach Norden und Westen, zunächst nach Norditalien,

Weitere Kostenlose Bücher