Wer schlafende Hunde weckt
auf dem Tisch an und fragte sich, wie viele kleine weiße Linien auf späteren Aufnahmen wohl auf den Mann in ihrer Küche zurückgingen. Dann bekam sie Angst, sie würde in Tränen ausbrechen, wenn sie an die kleinste weiße Linie von allen dachte – winzig, leblos, aber trotzdem noch leuchtend auf einem der Fotos sichtbar. Ein vier Wochen altes Baby, das nichts gesehen haben und nie irgendjemandem etwas hätte sagen können.
Dann hatte sie sie vor Augen: Eine Frau in Schwesternuniform mit einem laminierten Ausweis an der Brust.
»Bains Frau«, sagte sie.
»Die Krankenschwester? Was ist mit der?«
»Die ist keine Krankenschwester. Sie ist Hebamme .«
»Ja, und?«
»Sie haben es doch selber vor Bains Haus gesagt: Wenn Ihr Vater nach einem Zeugen gesucht hat, gab es doch massenweise bessere Kandidaten. Weshalb ist es dann Bain geworden?«
»Weil seine Alte auf der Entbindungsstation arbeitet«, sagte Fallan, der es jetzt verstanden hatte.
»Bains Nummer steht bei den ausgegangenen und eingegangenen Anrufen. Keine Handynummer, sondern das Festnetz zu Hause. Was also, wenn der eingegangene Anruf nicht von Bain war, sondern von ihr?«
Locust fliegt aus
Abercorns schwarzer Mondeo bog links von der Albion Street aufs Trongate ab. Catherine war zwei Wagen dahinter, zusätzlich getarnt, hoffte sie, weil sie Drews Auto fuhr, obwohl Abercorn wahrscheinlich nicht mal wusste, wie ihr eigenes aussah.
Er konnte überhaupt nicht wissen, dass sie da war. Das war ja das Tolle – als Polizist kommt man einfach nicht auf die Idee, dass man selbst beschattet werden könnte.
Dieser Straßenwechsel kam Catherine immer ein bisschen unwirklich vor. Die beiden waren einfach zu verschieden, als dass sie aufeinandertreffen dürften. Aus der Merchant City mit ihren Nobelwohnungen, trendy Pubs und hippen Restaurants, aus diesem aufstrebenden Glasgow der Tourismusbroschüren und Lifestyle-Seiten kam man direkt in diese verlotterte Gegend der Schnäppchenläden, abgewrackten Saufkneipen und Imbisse, Glasgows eigenes Bildnis des Dorian Gray. So sah es hier schon aus, solange sie denken konnte – wie ein vertrocknetes Anhängsel am Ende der Argyle Street, wo die Logos der Ladenketten handgeschriebenen Plakaten voller überflüssiger Apostrophe wichen.
So ist Glasgow. Die Stadt kann sich herausputzen und fein machen, aber eine Straße weiter lauert immer die hässliche Realität. Sie versteckt sich zwar nicht, aber die meisten Leute können ihr einfach aus dem Weg gehen.
Es war kurz vor zwei. Catherine verfolgte ihn schon seit fünf Stunden, aber Warten gehörte zu ihren Stärken. Diese Fähigkeit war nicht leicht zu meistern, aber wenn man es endlich konnte, verlernte man es nie wieder. Alles Einstellungssache.
Man musste sich damit abfinden, dass vielleicht nichts dabei herauskam und man seine Zeit verschwendete. Man durfte nicht an das denken, was man gerne beobachten würde oder auch nur überlegen, was überhaupt beobachtenswert sein könnte. Man musste einfach nur abwarten.
Das wurde natürlich dadurch erschwert, dass Catherine sich in einer unautorisierten Observation eines Kollegen befand, worauf sie nicht unendlich viel Zeit verwenden durfte, aber auch das hatte sie vorher gewusst. Sie hatte hingenommen, dass sie vielleicht nichts zu sehen bekommen würde und dass es, ebenso wichtig, vielleicht überhaupt nichts zu sehen gab .
Im Augenblick war sie optimistisch, dass endlich etwas passieren würde. Wenn man jemanden den ganzen Tag im Auto beobachtet hat, bemerkt man jedes kleine Detail, jede subtile Veränderung im Fahrstil. Abercorn fuhr auf einmal wie jemand, der knapp über der Promillegrenze lag – er war mit allem ein bisschen vorsichtiger, ein bisschen bedachter. Vielleicht lag das aber auch daran, dass er nach einem Tag im Stadtzentrum endlich hinaus ins wilde Umland fuhr.
Er war auf dem Gallowgate unterwegs nach Osten, am Barrowland Market vorbei und folgte dem Knick in der Straße auf die Tollcross Road. Er fuhr gleichmäßig und hielt Sicherheitsabstand zum Vordermann. Viel einfacher hätte er ihr die Verfolgung gar nicht machen können. Keine Ausweichmanöver, keine 180-Grad-Wenden und kein plötzliches Abbiegen, ohne zu blinken. Auch die Strecke war erst im Nachhinein verdächtig. Er bog links von der Tollcross Road ab, bevor sie zur Hamilton Road wurde, fuhr nach Norden am Tollcross Parkvorbei, dann wieder nach Osten auf der Shettleston Road, nur um durch Mount Vernon wieder nach Süden und dann auf
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