Wer Schuld War
Stunde nutzen, denn sie weiß nicht, wann
sie das nächsteMal den Mut haben wird, so offen gegen alle guten Sitten zu verstoßen. Wenn sie es jetzt nicht fragt, würde Paul seine Geheimnisse
mit ins Grab nehmen. »Ich habe nichts gegen dich, ich will eigentlich nur wissen, was Paul dir bedeutet hat. Und umgekehrt.«
»Wir waren gute Freunde«, sagt Gina und betont das so, als wüsste sie ganz genau, wie unglaubwürdig diese Plattitüde klingt.
Pilar fühlt sich wie ein Hund, der auf eine Fährte gesetzt worden ist und wie einem Zwang seiner Nase folgen muss. Sie sagt:
»Das hört sich so an, als wäre es nicht wahr«, woraufhin Gina
natürlich
antwortet, dass es wohl wahr sei, dass es kein Geheimnis gebe, dass Pilar sich alles nur eingeredet habe, dass Paul und Gina
beide allein gewesen seien, ohne Partner, dass sie sich gegenseitig geholfen haben. Sonst nichts.
»Wir haben viel telefoniert, uns Mails und SMS geschickt, und manchmal sind wir zusammen ausgegangen. Das war alles.«
»Und damit habt ihr aufgehört, sobald ich mit Paul zusammen war?«
Gina zündet sich die nächste Zigarette an und winkt der Kellnerin; die Sonne scheint jetzt schräg und glutrot von einem wolkenlosen
Himmel direkt in ihr blasses Gesicht, und Pilar bemerkt, dass das Lokal bis auf den letzten Platz belegt ist, der einzige
Ort mitten in der Stadt, von dem aus man in dieser Jahreszeit einen derart spektakulären Sonnenuntergang beobachten kann.
Die Kellnerin kommt an ihren Tisch, und Gina bestellt einen weiteren Kaffee. Pilar verlangt die Rechnung und wiederholt dann
ihre Frage, obwohl es vielleicht klüger gewesen wäre, es sein zu lassen. Aber es ist nun einmal so gewesen, dass Paul felsenfest
behauptet hat, mit Gina keinen Kontakt mehr zu haben. Und sie hat Paul mehrmals beim Lügen ertapp. Gina sagt sofort: »Nein«,
und das sehr langsamund genüsslich. »Wir haben nicht damit aufgehört. Warum auch?«
Jetzt erkennt Pilar immerhin, dass Gina einerseits die Wahrheit sagt, und dass sie ihr andererseits dennoch nicht vertrauen
kann, aber das spielt keine Rolle mehr; sie wird Gina nie wiedersehen. Noch heute Abend wird sie in Pauls Wohnung gehen, auch
wenn diese zurzeit von der Polizei versiegelt ist, und sie wird Pauls E-Mails lesen, weil Tote kein Anrecht auf Geheimnisse mehr haben, und weil es für die Lebenden wichtig ist, alles zu wissen, egal,
wie es ihnen damit geht. Und in diesem Moment beugt sich Gina vor und legt ihre kühle weiße Hand auf Pilars dunkleren Unterarm,
und Pilar bringt es nicht fertig, die Hand wegzustoßen. »Hat er behauptet, dass wir uns nicht mehr sehen?«, fragt Gina.
Pilar kann nicht darauf antworten, sie mag Gina nicht mehr ins Gesicht sehen. »Ich muss gehen«, sagt sie und zieht ihren Arm
vorsichtig unter der fremden Hand weg. Sie sieht, dass Ginas Hand sehr schmal mit langen Fingern ist, dass die kurz gefeilten
Nägel matt glänzen, und die Haut aussieht wie geäderter Marmor, wie die Haut einer Toten. Im selben Moment verschwindet die
Sonne endgültig, und Pilar beginnt zu frieren, holt ihr Portemonnaie aus der Aktentasche und legt das Geld für den Kaffee
abgezählt auf den Tisch.
»Ich übernehme das«, sagt Gina, und aus ihrer Stimme ist nicht nur das schlechte Gewissen herauszuhören, sondern auch der
unbeholfene Versuch, Pilars Gunst zurückzugewinnen, nicht, weil sie Pilar mag, sondern weil sie es wie viele intrigante Menschen
nicht erträgt, dass jemand schlecht über sie denkt. Das glaubt Pilar jedenfalls, und schon deshalb lehnt sie das Angebot ab,
und zwar auf unmissverständliche Weise, aber Gina lässt nicht locker, fleht sie regelrecht an, noch einem Moment sitzen zu
bleiben.Pilar fragt: »Warum?«, aber sie bleibt sitzen, die Lippen zusammengepresst, die Aktentasche auf ihrem Schoß.
»Es war nichts zwischen Paul und mir. Das musst du mir glauben.«
»Er hat behauptet, ihr hättet keinen Kontakt mehr.«
»Ja, weil du die Wahrheit nicht akzeptiert hättest. Du hättest ihm nicht geglaubt, dass wir nur Freunde sind, du glaubst nicht
an Freundschaft zwischen Männern und Frauen.«
Zorn breitet sich in Pilar aus, bis sie ihn in den Fingerspitzen zu spüren glaubt, eine nervöse Energie, die sie zwingen will,
aufzuspringen, aber sie sitzt und schweigt. »Das ist alles«, sagt Gina gerade, und Pilar fragt sich
was alles?
Sie hat nichts von dem mitbekommen, was Gina ihr gerade erklärt hat, aber es ist auch nicht wichtig. Gina ist nicht
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