Wer Schuld War
stinkenden Aschekegel hinterlässt wie ein
winziges Mahnmal.
»Susanne kann sich jederzeit bei mir melden. Sie kann bei mir wohnen, solange sie will«, sagt Gina und schnippt den Aschekegel
in den Papierkorb.
»Wie soll sie das denn machen, Regine, sie kann doch die Kinder nicht allein lassen«, erwidert ihre Mutter hörbar unzufrieden.
»Wie gesagt, Mama, sie kann mich jederzeit anrufen. Ich bin für sie da. Sie kann mich besuchen, sie kann hier wohnen, sie
kann sich ablenken. Würdest du ihr das bitte ausrichten?«
Ihre Mutter würdigt diesen Vorschlag keiner Antwort, und Gina verabschiedet sich und legt schließlich einfach auf, nachdem
ihre Mutter beharrlich weiter schweigt. Das ist möglicherweise die erste Hürde auf dem Weg zu echter Unabhängigkeit, sagt
sich Gina, während sie die Dusche anstellt und darauf wartet, dass das Wasser warm wird. Ein Gedanke, der sie erst euphorisch
unddann traurig macht. Unabhängigkeit ist es zwar, was sie immer gewollt hat, schließlich ist sie in einer uninteressanten Stadt,
in einem uninteressanten Viertel aufgewachsen, in einer Familie, die nichts Inspirierendes hat. Es ist also nur logisch, dass
sie all das hinter sich lassen will, aber kaum ist sie auf dem Weg dahin, merkt sie, dass ihr etwas fehlt.
Sie duscht lange und sehr heiß, fantasiert sich unter einen Wasserfall im Dschungel, einen transparenten Vorhang aus Milliarden
Tropfen, der gleichzeitig freien Blick und doch Schutz vor der Welt gewährt, aber irgendwann wird das Wasser lauwarm und dann
sehr schnell kalt. Sie dreht den Hahn zu, trocknet sich ab, und überlegt, was sie mit diesem Fragment eines Tages anfangen
soll, der eigentlich erst am Abend richtig beginnen wird, nachdem ihr ihre Galeristin streng verboten hat, vor vier Uhr in
der Galerie zu erscheinen.
Geh einkaufen oder setz dich ins Café. Wir haben alles bis ins Detail besprochen. Hier stehst du nur herum und machst dich
und uns nervös.
Sie zieht sich eine alte, ausgebeulte Jeans und ein farbbekleckstes T-Shirt an. Sie würde nicht einkaufen gehen oder ins Café, sondern einige Leinwände grundieren, denn das ist eine Arbeit, die keine
Kreativität erfordert, sondern nur handwerkliche Sorgfalt, bei der man nicht denken, sondern nur funktionieren muss, und das
wird ihr guttun. Sehr gern würde sie jetzt die Welt um sich herum vergessen, völlig in einer stupiden, anstrengenden und notwendigen
Tätigkeit aufgehen, um die Last verbliebener Stunden nicht mehr zu spüren.
Ihre Bilder hängen genau so, wie sie es mit der Galeristin besprochen hat. Es sind viele Leute gekommen, aber darunter sind
viele Freunde und nur wenige potenzielle Kunden,dazu kommt, dass sich der angekündigte Journalist als Volontär im Sportteil entpuppt, den die Chefredaktion zur Vernissage
geschickt hat, um der Galeristin einen Gefallen zu tun. Immerhin sieht er sie schwärmerisch an, als sie langsam in sein Aufnahmegerät
von nie enden wollender Reflexion über die Welt spricht. Bilder, sagt sie in sein begeistertes, verständnisloses Gesicht,
beinhalteten alles, was der Schöpfung gleichkäme, Geist und Materie, und so sei das Bild an und für sich Selbstspiegelung
und gleichzeitig die Verdichtung neuer Mythen und Lebensentwürfe. »Meine Bilder begannen um das Thema Liebe zu kreisen, mit
all ihren Begleitformen, Erotik und Sexualität, Liebe als Provokation, als unvollendeter Zustand, als verführerische Inszenierung
und ausweglose Hoffnung. Es interessiert mich nicht, ob Frauen Lustobjekte des Mannes sind, sondern was sie mit ihrer Lust
machen. Es geht um Triumph, um Macht, Einsamkeit, Niederlage, um Schmerz und vor allem um Erlösung.«
Während sie das zum hundertsten Mal abspult, überlegt sie sich, wider Willen geschmeichelt, ob sie ihn zum anschließenden
späten Abendessen einladen soll. Ihre Galeristin hat einen Tisch in einem Thairestaurant in der Nähe reserviert, es wäre also
ein völlig unverdächtiges Angebot, doch dann erkennt sie, dass er zu jung für sie ist und ihr nur Scherereien einbringen würde,
und ausnahmsweise hält sie diese Aussicht tatsächlich davon ab, die Sache weiterzuverfolgen.
Um acht Uhr ist es brechend voll; das kleine Vorspeisen-Büffet ist leer geräumt, der Alkohol fließt in Strömen, zwei Bilder
sind bereits verkauft, und zwei weitere wurden reserviert, und das ist kein großer, aber ein respektabler Erfolg für den Anfang,
schließlich wird die Ausstellung noch
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