Wer Schuld War
Genau wie sein Vater kann er ganze Runden mit seinem Humor unterhalten,
aber eben auch ausdauernd schweigen oder sich über Kleinigkeiten derart aufregen, dass man an seinem Verstand zweifeln könnte.
»Danke, dass du mir erlaubst, mein Essen stehen zu lassen. Wirklich großzügig von dir.«
»Ich habe dir nichts zu erlauben oder zu verbieten. Du bist ganz dein eigener Herr.«
»Ach, wirklich?«
»Lass mich einfach in Ruhe.«
»Wer lässt dich bitte nicht in Ruhe? Du sorgst schon dafür, dass dir niemand zu nahekommt.«
»Hört auf«, sagt Martha jetzt doch, aber die beiden beachten sie nicht, starren auf ihre Teller, stochern in ihrem Essen,
laden ihre Waffen neu, degradieren Martha zum Publikum ihres Schlagabtauschs.
»Ich will jetzt nicht streiten«, sagt Barbara sehr langsam und beherrscht.
»Dann halt doch endlich den Mund!«
»Noch ein Wort und ich gehe.«
»Barbara …«, sagt Martha, denn sie will nicht, dass Barbara geht, nicht jetzt, nicht so; sie sieht Barbara heute zum letzten Mal, sie
will sich richtig verabschieden.
»Wer hält dich denn hier?«
Barbara bricht in Tränen aus, wirft ihre Serviette auf den Tisch, und stürmt aus dem Zimmer.
»Hol sie zurück!«, sagt Martha, und ihre laute und bestimmte Stimme klingt ihr fremd in den Ohren. »Sofort!«, fügt sie hinzu,
und dann kommt noch etwas, das sie noch nie zu sagen gewagt hat, weder zu ihrem Mann noch zu ihrem Sohn: »Sonst kannst du
auch gleich gehen.«
Fünf Minuten später sitzt Barbara wieder am Tisch und weint und weint. Manuel hat draußen im Flur auf sie eingeredet, Martha
hat nicht verstanden, was er gesagt hat, aber sie haben sich nicht angenähert, nicht wirklich, sie haben nur einen kurzen
Waffenstillstand Martha zuliebe vereinbart, und das heißt, dass sie zu Hause da weitermachen werden, wo sie aufgehört haben.
Barbara hebt ihr leeres Rotweinglas, und Martha schenkt nach, obwohl es bereits das dritte ist und noch nicht einmal zwei
Uhr.
»Ist dein Auto wieder heil?«, fragt sie, auf der Suche nach einem unverfänglichen Thema, leider vergeblich. »Wieso, was soll
damit sein?«, fragt Barbara mit glasigen Augen zurück, und Martha erschrickt, denn sie hat sie noch nie so gesehen, so unbeherrscht
und aufgelöst. Aber dann fällt Manuel ein, sagt »Hat sich erledigt«, und stürzt sich dann geradezu eifrig auf dieses Thema,
als wollte er jetzt keinen Streit mehr aufkommen lassen. Und zum ersten Mal erkennt Martha, dass nicht nur Barbara, sondern
auch er unter der total verfahrenen Situation leidet, und das überrascht Martha, denn sie hat ihn für beinahe unverwundbar
gehalten. »Barbara verhandelt mit der Versicherung. Handtasche, Brieftasche, Führerschein und so weiter – das ist natürlich
weg.«
»Das tut mir leid.«
»Mama. Das ist schon ewig her.«
Das klingt schon wieder sehr viel eher nach ihrem Sohn, und einen Moment lang ist Martha sprachlos, denn sie weiß zwar nicht
mehr, wie lange dieser Vorfall zurückliegt, und es ist ihr auch egal, aber eins weiß sie genau, nämlich dass »ewig« ganz sicher
nicht stimmt, sonst würde sie sich kaum so gut daran erinnern. »Schön«, sagt sie mit neutraler Stimme, während Barbara leicht
schwankend das Esszimmer verlässt und leise aber nachdrücklich die Tür hinter sich zumacht.
»Um wie viel Uhr fliegst du?«, fragt Martha. Es ist hart für sie, dass Manuel für unbestimmte Zeit aus ihrem Leben verschwinden
wird, aber sie versucht, sich zusammenzunehmen, und findet, dass ihr das ganz gut gelingt.
»Es ist ein Nachtflug«, sagt er.
»Was wird aus dir und Barbara?«
»Ich weiß nicht. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken.«
»Hast du eine andere Frau?« Heute Morgen hat sie noch gedacht, dass sie gerade das nicht wissen will, dass es sie nichts angeht,
dass Manuel selbst entscheiden muss, was er mit seinem Leben anfängt, aber jetzt scheint alles anders zu sein, jetzt will
sie, dass er es ihr sagt. »Gibt es eine Andere?«
Sie spricht hastig und im Flüsterton, denn möglicherweise lauscht ja Barbara an der Tür. Nicht, dass das unbedingt typisch
für sie wäre, aber so, wie sie sich heute benimmt, ist ihr alles zuzutrauen. »Nein«, sagt Manuel in normaler Lautstärke, aber
er sieht dabei vor sich auf den Teller, rollt die letzte verbliebene Nudel auf und schiebt sie sich geistesabwesend in den
Mund. Martha betrachtet ihren Sohn sehr genau, als würde sie ihn zum letzten Mal sehen und müsste ihn
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