Wer Schuld War
Schule, statt aufzupassen, Listen von all den Dingen, die ihn in naher Zukunft in Schwierigkeiten
bringen würden.
Lügen
Klauen
Schwänzen
Durchfallen
Kiffen
Na und?
Aber er ist eben nicht so. Ihm macht das zu schaffen. Er muss damit zurechtkommen, dass in ihm ständig ein Kampf tobt, zum
Beispiel der zwischen Gut und Böse. Er will gut in der Schule sein, später einen guten Beruf haben, auch wenn er noch keine
Ahnung hat, welcher das seinsoll, und in diesem guten Beruf will er eine Menge Geld verdienen. Aber es gibt Dinge, die vorher erledigt werden müssen.
Wenn man jung ist, muss man diese Dinge tun, und zwar aus Spaß, und weil man sonst ein Feigling ist, und das ist das Einzige,
was man auf keinen Fall sein darf, auch wenn seine Mutter das anders sieht.
Erst wenn man älter ist, darf man ernst machen mit seinem Leben.
So wie seine Mutter. Sie hat allerdings viel zu früh ernst gemacht. Und dann behauptet, es hätte ihr nichts ausgemacht.
Du warst das süßeste Baby von allen. Fremde Menschen haben sich über deinen Kinderwagen gebeugt, weil du diese unglaublichen
blonden Locken und diese pechschwarzen Augen hattest, eine ganz seltene Kombination. Du warst ganz besonders lieb und hübsch.
Und intelligent und clever. Du hattest schon immer diese schnelle Auffassungsgabe. Du hast mich mit Fragen bombardiert.
Ist schon gut, Mama. Ich war Wonderboy.
Es ist wahr, mein Schatz. Ich habe nichts vermisst, nicht das Ausgehen, nicht das Freundetreffen, nichts. Ich war so glücklich
mit dir, du hättest der einzige Mensch auf der Welt sein können, und mir wäre nichts abgegangen.
Er weiß, dass sie es nett meint, er mag es nur nicht, wenn sie dermaßen übertreibt, seiner Ansicht nach ist er ganz normal
und will auch nichts anderes sein. Ganz normal: Früher waren seine Noten überdurchschnittlich gut, jetzt sind sie vergleichsweise
schlecht. So geht es vielen in seinem Alter, es hat nichts zu bedeuten, aber das ändert nichts an seinem Missmut und seinem
Widerwillen, jeden Morgen viel zu früh aufstehen zu müssen und sich in eine Institution zu schleppen, in der sein Versagen
aktenkundig ist. Er weiß nicht, wie das gekommen ist, er tut genauso viel für die Schule wie früher, nämlich relativ wenig,
undbisher hat es immer vollkommen gereicht, jetzt aber nicht mehr, und das verwirrt ihn.
Er will die Leichtigkeit zurückhaben, die Selbstverständlichkeit, mit der ihm früher alles gelungen ist, aber dieses gute
Gefühl ist weg, und jetzt ist sein Leben wie eine Last. Er kommt keinen Schritt mehr voran, schlägt sich vielmehr seitlich
in die Büsche und hasst sich dafür, und manchmal, immer häufiger, hasst er auch seine Mutter, nämlich vor allem dafür, dass
sie ihn unbedingt in diesem Gymnasium
in einer wirklich guten Gegend
unterbringen musste,
damit du später beste Chancen hast, Schatz
, und dafür, dass er nun tatsächlich dort gelandet ist. Weswegen er logischerweise zu denen in der Klasse gehört, die am wenigstens
Geld zur Verfügung haben.
Seine Eltern werden nie reich sein. Sie werden nie das haben, was für Steve und Ben und die anderen total selbstverständlich
ist. Sie müssen sich die Jeans absparen und die Sneakers und den iPod und all das, was er braucht, um mitzuhalten, und er
hasst diese Vorstellung. Dass sie sich anstrengen müssen, seinetwegen. Anstrengen ist nicht cool.
An diesem Morgen spürt Philipp wieder die Steinquader auf der Brust und später das Eingeschnürtsein in dem Eisenring, und
so rauschen drei Schulstunden an ihm vorbei, als wäre er gar nicht dabei. Mathephysikenglisch. Er kriegt kein Wort davon mit,
selbst dann nicht, als er es ein paar Minuten lang versucht und bei der Gelegenheit wieder einmal feststellt, dass er irgendwie
den Anschluss verpasst hat. Der Zug jetzt abgefahren ist, wie Steve zu sagen pflegt, mit einem Gesicht, als sei er stolz darauf.
Er starrt Löcher in die Luft, denkt nach.
Nadia aus der Parallelklasse hat ihm heute Morgen eine SMS geschrieben
( ich finde dich heiß
), und er überlegt, wer ihr seine Nummer gegeben hat und ob er ihr antwortensoll, und wenn ja, was. Er verbringt sehr viel Zeit mit dieser Entweder-Oder-Frage, weil er sich seinen sehr viel drängenderen
Problemen nicht stellen will. Nur einmal denkt er ganz kurz
Ich steige aus
, aber dieser Gedanke fühlt sich lächerlich pathetisch an und entspricht in keiner Weise den Optionen, die er jetzt noch hat.
In der großen Pause geht er
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