Wer Schuld War
solange sie ihm dabei zuschauen können. Schließlich
würde auch diese große Pause irgendwann vorbeigehen, genauso wie dieser ganze unerträgliche Vormittag, der sich klebrig anfühlte
wie Sirup. Und dann scheinen die verbliebenen Stunden plötzlich das Fliegen gelernt zu haben, im Nu ist es fünf nach eins,
und Philipp verlässt das Klassenzimmer als einer der Ersten, weil er weiß, dass seine Mutter an der Einfahrt zum Schulhof
auf ihn wartet.
Da es ein warmer Tag ist, sitzt sie diesmal vielleicht nicht im Auto, sondern lehnt an der geschlossenen Fahrertür und streckt
ihr Gesicht der Sonne entgegen. Natürlich sollen die anderen sie nicht sehen, also drängelt er sich durch den Pulk der schwatzenden
Schüler und nimmt ander Treppe zwei Stufen auf einmal, reagiert auch nicht, als ihm sein Deutschlehrer über den Weg läuft und seinen Namen ruft.
Draußen scheint die Sonne sehr stark, scheint sich beinahe im hellen Asphalt des Schulhofs zu spiegeln, und Philipp setzt
seine Ray Ban auf und läuft federnd auf den Ausgang zu, wo er seine Mutter bereits am Auto lehnen sieht, mit locker verschränkten
Armen und geschlossenen Augen die Wärme genießend, genau so, wie er es sich ausgemalt hat.
»Hi«, sagt er knapp, als er sie erreicht, und sie öffnet die Augen, langsam wie eine Katze. Dann wendet sie sich ihm zu, und
ein Lächeln breitet sich über ihr Gesicht, aber da ist er schon zur Beifahrerseite abgebogen, ohne ihr einen Kuss zu geben,
steigt ein und zieht die Autotür mit einem energischen Ruck ins Schloss und hofft, dass sie die Geste als Signal versteht,
sich zu beeilen.
Eine Sekunde später sitzt sie tatsächlich neben ihm, und er atmet erleichtert auf, auch wenn die Gefahr noch nicht gebannt
ist, denn seine Mutter fährt einen alten Golf, und solche Schrottkisten fallen vor dieser Schule auf. Aber sie merkt wie üblich
nichts, sieht ihn von der Seite an mit einem halb amüsierten, halb ärgerlichen Blick, erwartet offensichtlich etwas von ihm,
und er könnte schon wieder aus der Haut fahren vor Ungeduld.
»Willst du hier festwachsen?«
»Wie wär’s erst mal mit einer Begrüßung? Ich bin doch nicht dein Chauffeur.«
»Hi.«
»Philipp …«
»Fahr einfach los, okay?«
»Wieso hast du’s denn so eilig?«
»Ist doch egal.«
Er sieht aus dem Fenster und in den Seitenspiegel, aber er kann die anderen nicht entdecken, und als er lange genughartnäckig geschwiegen und ihren Blick gemieden hat, startet sie endlich den Wagen. In derselben Sekunde taucht Steve neben
dem Auto auf, klopft an das Beifahrerfenster, und Philipp sagt: »Fahr los, verdammte Scheiße!«, und das in einem Ton, dem
die Verzweiflung vermutlich derart deutlich anzuhören ist, dass seine Mutter tatsächlich den Gang einlegt und Gas gibt. Steve
muss sogar zurückspringen, Philipp sieht ihn fluchen, und einen Moment lang muss er beinahe lachen. Minuten später, so kommt
es ihm vor, sind sie bereits auf der Autobahn Richtung Süden unterwegs.
Der kleine Junge taucht vor seinem inneren Auge auf, und ihm bricht der Schweiß aus.
Mit aller Kraft konzentriert er sich auf die Landschaft, die mit Turbogeschwindigkeit an ihnen vorbeirast.
»Kann ich Musik hören?«
»Meinetwegen.«
Er legt eine CD von ›Placebo‹ ein; viel lieber noch hätte er sich in seinen iPod gestöpselt, aber er weiß, dass seine Mutter
so etwas in ihrer Gegenwart nicht duldet. Er sieht sie von der Seite an, sodass sie es vielleicht nicht merkt. Sie trommelt
mit ihren langen Fingern auf das Lenkrad, im Rhythmus der Musik. Sie sieht so jung aus. Wie eine große Schwester.
Sie halten an einem kleinen See, den seine Mutter vor Jahren als Geheimtipp entdeckt hat. Leider ist mittlerweile aus dem
Geheimtipp ein beliebter Treffpunkt junger Mütter mit kreischenden kleinen Kindern geworden, also fahren sie weiter, in die
Berge hinein.
Seine Mutter hat zwei Rucksäcke mit Proviant gepackt und überredet ihn zu einer einstündigen Wanderung, die – verspricht sie
hoch und heilig – an einem Wasserfall enden wird, wo man sich abkühlen kann. Es ist seltsam, denn obwohl Philipp Wanderungen
eigentlich hasst, fühlt ersich schon nach wenigen Schritten wie von einer schweren Last befreit. Sonnenlicht fällt flirrend durch die noch dicht belaubten
Bäume, einzelne gelbe und rote Blätter leuchten feurig auf, die Luft ist so klar und frisch, wie sie in der Stadt nie sein
kann. Seine Mutter lässt ihn in Ruhe seinen
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