Wer Schuld War
Gedanken nachhängen, beginnt erst nach einer halben Stunde ein Gespräch, wobei
sie instinktiv oder ganz bewusst alles meidet, was ihn sauer oder frustriert machen würde. Seine schlechten Leistungen in
der Schule, seine mangelhaft erledigten Hausaufgaben, seine ungeklärten Abwesenheiten nachmittags und abends, die Tatsache,
dass er angefangen hat zu rauchen – es ist, als wäre all das nie passiert. Stattdessen erzählt seine Mutter von ihrer alten
Heimat, von ihrem großen Bruder, der eines Tages nicht mehr nach Hause gekommen war, von ihrem Vater, der kurz vor der Verhaftung
gestanden hatte, von ihrer Flucht, die sie alle nicht wollten, und die sie nie gewagt hätten, wenn sie einen anderen Ausweg
gesehen hätten.
Er kennt diese Geschichten natürlich schon, aber sie sind angenehm weit weg von seiner aktuellen Situation, und so lässt er
sich bereitwillig darauf ein, taucht für eine Stunde in eine andere Welt ein mit viel existenzielleren Problemen, als er jemals
haben wird. Denn sicher ist immerhin, dass er nicht auf Nimmerwiedersehen in einem Gefängnis verschwinden wird wegen politischer
Unbotmäßigkeit, oder weil er seiner Religion abgeschworen oder Ehebruch begangen hat.
Er kann höchstens wegen Diebstahls oder Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu ungefähr hundert Stunden Sozialarbeit
verurteilt werden und wäre damit als Sechzehnjähriger vorbestraft. Bei diesem Gedanken verdüstert sich sein Gemüt aufs Neue,
denn die Sache ist ja die, dass Steve, Ben und der Rest der Clique sich um derartige Risiken nicht scheren müssen. Alles,
was ihnen passierenkann, sind ein paar lästige Pflichttermine bei einem teuren
Shrink
. Philipps Leben wäre dagegen die Hölle auf Erden, und dabei denkt er nicht nur an die Enttäuschung seiner Mutter, sondern
auch an die seiner Tanten und seiner Großmutter, an das Beben, das diese Geschichte in seiner weit verstreuten Familie auslösen
würde, die sich seit nunmehr einem Vierteljahrhundert bemüht, in ihren jeweiligen neuen Heimatländern den bestmöglichen Eindruck
zu hinterlassen.
Sie würden ihm das nie verzeihen.
Es wäre dann alles vorbei.
Die Schule, sein Leben, alles würde einen vollkommen anderen Verlauf nehmen, und er würde es nicht verhindern können.
Sie erreichen den Wasserfall, der sich in ein Felsbecken ergießt, das aussieht wie eine riesige Badewanne aus Granit. Niemand
sonst ist hier, sie sind die Einzigen, die sich im eisigen Bergwasser erfrischen und sich danach in eine sonnige Ecke setzen
und gebutterte Sandwiches picknicken, die seine Mutter mit kaltem Huhn und Gürkchen belegt hat. Philipp isst seines zur Hälfte
auf und legt sich dann in die Sonne, die seinen Körper angenehm aufheizt, beginnt zu dösen und schläft schließlich mit dem
Basecap auf dem Gesicht ein, taucht ab in einen Traum, der voller Schatten und Angst ist.
Er erwacht, als ihn seine Mutter sanft an der Schulter rüttelt. Einen Moment lang ist er benommen und fühlt sich erschlagen
vor Müdigkeit, als hätte er nächtelang keinen Schlaf bekommen. Voller böser Ahnungen sieht er in das Gesicht seiner Mutter,
das ihm plötzlich älter und faltiger vorkommt als je zuvor. Was ihn so erschreckt, dass er den Arm über seine Augen legt,
als würde ihn die Sonne blenden. Aber das kann sie gar nicht, denn sie ist weitergewandert,und im Schatten ist es herbstlich kalt und plötzlich sehr ungemütlich, also erhebt er sich fröstelnd, während das Sandwich
halb verdaut in seinem Magen herumrumort. Seine Mutter drängt zum Aufbruch. Sie trägt wieder Jeans und ihr hellrotes Kapuzenshirt,
ihr Bikini hängt zum Trocknen schlaff über einem Ast, und sie nimmt ihn ab und verstaut ihn sorgfältig in ihrem Rucksack.
Philipp zieht sich an, während seine Mutter nicht nur ihren, sondern auch seinen Rucksack packt. Dann legen sie den ganzen
Weg schweigend zurück, auch im Auto sprechen sie nicht. Die Landschaft ist in warmes, gelbes Licht getaucht, leichte Schleier
liegen über den immer noch saftig grünen Wiesen, und Philipp nickt wieder ein.
Er wacht erst auf, als seine Mutter den Wagen vor Pauls Wohnung parkt.
»Was machst du hier?«, fragt er schlaftrunken.
»Ich gebe Paul seinen Schlüssel zurück.«
»Wieso denn jetzt?«
»Irgendwann muss es ja sein. Er hört sonst nicht auf, zu hoffen. Willst du mitkommen?«
»Wirf ihn doch in den Briefkasten.«
»Nein. Das tut man nicht.«
»Wieso nicht?«
»Kommst du
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