Wer Schuld War
sein, das
sie bereits ad acta gelegt hat.
Dann fragt er sie in beiläufigem Ton nach Pilars Telefonnummer.
Sie sagt nach einer Pause: »Frag doch Paul. Oder sieh im Telefonbuch nach.«
»Sie steht nicht im Telefonbuch. Und Paul kann ich nicht fragen.«
»Tut mir leid.«
»Gina …«
»Ciao. Viel Spaß in Katar.«
»Ich rufe dich noch mal an.«
»Wieso denn das?«
Er sieht ehrlich verblüfft aus, fragt allen Ernstes »Bistdu sauer?«, wie ein gemaßregelter kleiner Junge. »Ich möchte, dass wir Freunde bleiben«, sagt er dann.
»Was verstehst du denn darunter?«
»Wie bitte?«
»Eine einfache Frage. Wie soll deiner Meinung nach eine ›Freundschaft‹ zwischen uns aussehen?«
»Ich weiß nicht.« Sie sieht, dass er aufgibt, und das ist in Ordnung, denn jetzt hat auch sie ihn aufgegeben.
»Eben. Alles Gute für dich. Ciao.«
Er zögert immer noch, so verlegen, wie sie ihn noch nie erlebt hat, und auch das ärgert sie, aber schließlich sagt er lahm:
»Danke, Gina. Für …äh … alles. Tut mir leid, dass ich …«
Sie macht ihm mitten im Satz die Tür vor der Nase zu.
Einige Stunden später ist sie betrunken, aber noch so, dass es guttut. Nach einem weiteren Drink schlendert sie durch ihr
Viertel, in einem hellen, leichten, sehr teuren Trenchcoat über ihrem Kleid, den sie sich vom Erlös ihres letzten Bildes geleistet
hat, und der jetzt für eine Zukunft steht, in der sie endlich nicht mehr sparen muss. Jetzt, in dieser Sekunde, eine Woche
bevor sie ihre erste Einzelausstellung haben wird, glaubt sie an diese Zukunft,
weiß
einfach, dass alles eintreten wird, wovon sie schon immer geträumt hat, befindet sie sich in einer magischen Blase, die Unverletzlichkeit
garantiert und die Erfüllung aller Wünsche möglich macht. Und wie immer, wenn sie sich in diesem Zustand der Gnade befindet,
fällt Gina plötzlich nicht mehr ein, was sie wirklich will.
Während sie darüber nachgrübelt, setzt sie sich in eins der vielen Cafés in ihrer Straße, registriert erst jetzt, dass die
Luft um sie herum vor Betriebsamkeit summt, weil der warme Herbst nach einem verregneten Spätsommer die Leute auf die Straße
treibt, sie offener macht, heiterer undlockerer. Vielleicht weil schönes Wetter in einer dafür nicht prädestinierten Jahreszeit einem das Gefühl gibt, dem Schicksal
ein Schnippchen zu schlagen, als handle es sich um ein irrtümliches Geschenk, das nicht zurückgegeben werden muss. Gina nimmt
die Getränkekarte, deren in Plastik eingeschweißte Seiten sich feucht und fettig anfühlen; ein leiser Schauer fährt ihr über
den Rücken, als sich am Nebentisch ein Schwulenpaar küsst, oder vielmehr der ältere den jüngeren, hübscheren küsst, dem das
sichtlich unangenehm ist, weswegen Gina plötzlich glaubt, seine Gedanken lesen zu können –
was, wenn mich jemand mit DEM sieht?
–, und sich abwendet.
Sie bestellt einen Wodka auf Eis, damit das warme Gefühl angenehmer Gleichgültigkeit anhält, das gleichzeitig erhebt und nivelliert.
Selbst das Malen fällt ihr dann leicht, ohne die sonst übliche körperliche und seelische Anstrengung, ohne die Überwindung,
die es sie normalerweise kostet, sich erneut an die Leinwand zu stellen, mit schmerzendem Rücken und einem manchmal ganz tauben
rechten Arm.
Das Café befindet sich schräg gegenüber von Pauls Wohnung. Sie sieht hinter seinem Fenster Licht und denkt daran, ihn zu besuchen,
und es ist ihr im Moment egal, ob ihm das passt oder nicht, sie kennen sich nun schon so lange, dass es ihm nichts ausmachen
darf. Pilar ist weg, und sie wird nicht zurückkommen, und je eher Paul das kapiert, desto besser. Aber dann erinnert sie sich
an das erste Treffen mit Pilar, und sie lässt die Hand sinken, mit der sie dem Kellner winken wollte.
Sie haben Pilar gemeinsam kennengelernt, in einer kleinen Bar in einer Querstraße von dieser hier, ganz in der Nähe, wie sich
später herausstellte, von Pilars Wohnung. Damals war Pilar mit Alex unterwegs – Gina fällt bei der Gelegenheit ein, dass sie
bis heute nicht weiß, woher AlexPilar eigentlich kennt –, und als Gina und Paul hereinkamen, flirtete sie gerade in glänzender Stimmung mit dem Barkeeper. Gina hingegen nahm an
Paul eine Veränderung wahr, die gleichzeitig komisch war und wehtat. »Die gefällt dir, was?«, neckte sie Paul, während sie
Alex von der Tür aus zuwinkte, und Paul sah sie verwirrt an, als ob er ihre Existenz vollkommen
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