Wer Schuld War
anderthalb Liter, erlaubt sich Paul, um trinken zu können, aber nicht dasselbe Schicksal zu erleiden,
obwohl ihm ein befreundeter Internist nach einer ausführlichen Untersuchung mitgeteilt hat, dass bei seinen Leberwerten selbst
ein einziges Glas pro Tag zu viel sei.
Ich gebe dir vierundzwanzig Stunden Zeit, die Polizei zu verständigen. Wenn dann nichts passiert ist, werde ich es tun.
Nein.
Doch. Es gibt keine andere Möglichkeit.
Ich dachte, du stehst unter ärztlicher … äh …
Schweigepflicht?
Genau.
Ach was.
Du darfst niemandem etwas sagen, wenn ich es nicht will.
Das ist Blödsinn, Philipp. Ich sitze hier nicht als dein Arzt, sondern als Privatperson. Du bist nicht mein Klient.
Das heißt, ich mache mich genauso strafbar wie du, wenn ich nichts unternehme.
Ich kann das nicht. Ich kann nichts sagen. Die machen mich fertig.
Philipp, das können »die« nicht. Die sind schließlich nicht die Mafia.
Du hast keine Ahnung, was die können.
Nein? Dann sag’s mir.
Das verstehst du nicht. Die sind …
Ja?
Cool.
Was meinst du damit?
Mann. Die wissen, dass ihnen nichts passieren kann. Gar nichts. Aber die wissen, dass
mir
was passieren kann.
Gegen Mitternacht ist das dritte Bier geleert, und Paul sieht ein, dass er dieses Problem nicht allein lösen kann.
ALEX
Als Alex sich von seiner Frau und seiner Tochter getrennt hat, hat er alles aufgegeben, was ihm früher etwas bedeutet hatte.
Er wollte sich frei fühlen, und das war in seinem alten Leben nicht möglich, damals, als er viel zu viel gearbeitet hatte
für eine Vision, deren Verwirklichung sich im Laufe der Jahre immer weiter in eine ominöse Zukunft verlagerte. Eine Zukunft,
in der er sich in einem warmen, sonnigen Land sah, in einem mit Efeu umrankten Haus, umgeben von knorrigen Olivenbäumen und
saftig grünen Weinbergen. Irgendwann setzte sich dann die Erkenntnis durch, dass er so nicht ans Ziel gelangen würde, dauergestresst
und erschöpft, wie er war. Glücklicherweise fiel ihm dann die völlig unerwartete Erbschaft in den Schoß, die zumindest ihm
allein einen bescheidenen Wohlstand auch ohne Anstellung garantierte.
Und plötzlich ging alles relativ schnell, fügte sich unausweichlich eins zum anderen, die Kündigung seiner Stelle ohne Absprache
mit Verena, die Trennung kaum ein halbes Jahr später, der Verkauf des Hauses, die ersehnte Freiheit, das Streben nach Erleuchtung,
die vollkommen neue Welt, die einen seelenlosen Alltag ersetzte, das Eindringen in die Geheimnisse spiritueller Meister, die
Lust, selbst zu lehren und zu bekehren, obwohl ihm die Lehrer sagten, dass die Zeit noch nicht reif sei und er geduldig auf
weitere Zeichen warten müsse. Einer von ihnen, Nopaltzin, lud ihn nach Mexiko ein, zur weiteren Schulung seiner spirituellen
Fähigkeiten, was Alex etwa sechshundertEuro ohne Flug und Unterkunft kostete. Trotzdem machte er es, weil er wusste, dass gerade Nopaltzin, ein traditioneller Aztekentänzer,
der seine Schüler mittels uralter Trommelrhythmen auf die Reise in andere Bewusstseinszustände führte, um den Energiekörper
zu reinigen und die Blockaden zu lösen, Alex seiner Bestimmung näherführen würde. Tatsächlich riefen diese Rituale jene Energien
aus dem Kosmos, mit denen Krankheiten geheilt, Gebete an höhere Mächte übermittelt werden, und dort war es Alex auch zum ersten
Mal gelungen, in eine tiefe Trance zu fallen, an deren Ende seine Aura gereinigt war und er sich friedvoll und lebendig fühlte.
Es hat seitdem noch mehr, ja sogar unzählige dieser magischen Momente gegeben, die ihn trotzdem in der Summe nicht glücklich
machen, wahrscheinlich weil er nach derart kosmischen Erfahrungen meist in ein tiefes Loch fällt und es ihm nicht gelingt,
den Zustand tiefster Erfüllung in sein Leben hinüberzuretten. Die Pausen zwischen den Workshops werden daher immer kürzer,
und er selbst sieht die Gefahr, sich zwischen Reiki, Qi Gong, Chakra-Lehre, Schamanismus und amazonischer Pflanzenmedizin
zu verzetteln. Heute ist wieder so ein Tag des Zweifelns, alles läuft irgendwie unrund, was ihn sogar dazu bringt, Verena
im Büro anzurufen, eine Prozedur, der er sich normalerweise nicht mehr unterzieht, demütigend schon deshalb, weil sich nie
Verena, sondern immer ihre Sekretärin meldet, die ihn meistens abwimmelt, weil Verena entweder bei einem Meeting ist, einen
Termin »außer Haus« hat oder sonst irgendwie unabkömmlich ist.
Ja, so weit ist es mit
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