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Wer Schuld War

Titel: Wer Schuld War Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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übermorgen. Auch dafür
     braucht er Pilar, als Garantie, nie wieder Dummheiten zu begehen, die im Moment heiß und süß schmecken und am nächsten Morgen
     sauer aufstoßen.
     
    Der Tag erscheint ihm heute sehr lang, und seine Klienten kommen ihm noch unleidlicher vor als sonst, noch seltsamer und trister,
     wie sie mit ihren Litaneien des Elends mal näher, mal ferner um ihre kranken Egos kreisen, ohne jemals diesen Orbit zu verlassen.
     Und so fühlt er sich abends unendlich erschöpft und so einsam und traurig, als sei ihrLeiden ansteckend. Langsam radelt er nach Hause und erledigt noch einige Einkäufe. Hauptsächlich handelt es sich um die Zutaten
     für das Saltimbocca und die Mousse au Chocolat für morgen Abend. Wie üblich um diese Zeit ist der kleine Delikatessenladen
     voller Menschen, die sich um die eng gestellten Regale drängen, mit missmutigen, ungeduldigen Gesichtern, denen man die Sehnsucht
     ansieht, nach einem langen Arbeitstag allein zu sein, und Paul füllt genau wie sie mechanisch seinen Einkaufswagen, und steigt
     zwanzig Minuten später mit Tüten bepackt keuchend hoch in den vierten Stock. Jede Stufe bedeutet eine Anstrengung, weshalb
     er sich, wie schon öfter in letzter Zeit fragt, was nur mit ihm los sei, warum er sich in letzter Zeit so müde fühle, so schwach
     und ohne Energie.
    Dann entdeckt er Philipp.
    Er sitzt im Halbdunkel auf der letzten Stufe des Treppenabsatzes vor Pauls Wohnung und starrt, ohne zu lächeln, auf ihn hinunter.
    Paul zuckt zusammen. Sein linker Arm beginnt zu kribbeln, etwas, das immer mal wieder passiert, aber das Kribbeln verschwindet,
     als er an Philipp vorbeigeht und seine Tüten vor der Wohnungstür abstellt. Philipp hat sich auf seine typische schlurfige
     Art erhoben und steht jetzt seltsam bedrohlich dicht hinter ihm, die Hände in den Taschen seiner Jeans. »Willst du reinkommen?«,
     fragt Paul, obwohl er nicht die geringste Lust hat, sich ausgerechnet jetzt mit Philipp zu beschäftigen. Aber so ist er nun
     einmal, durchaus in der Lage, sich in seiner Wohnung zu verbarrikadieren, das Telefon klingeln zu lassen und seine E-Mails zu ignorieren, aber unfähig, Nein zu sagen, sobald ihm jemand in die Augen sieht und etwas von ihm fordert.
    Also schließt er die Tür auf und lässt Philipp den Vortritt, und der Junge latscht an ihm vorbei in die Küche und lässt sich
     dort auf einen der Holzstühle fallen, mit einemGesicht, als hätte er einen dreistündigen Gewaltmarsch hinter sich, obwohl er den kurzen Weg von Pilars zu Pauls Wohnung sicherlich
     auf seiner Vespa zurückgelegt hat. Ungerührt sieht er zu, wie Paul die Lebensmittel in den Kühlschrank räumt, zwei Tassen
     aus seinem Hängeschränkchen nimmt, sie mit Kaffeepulver füllt und Wasser aufsetzt.
    »Milch?«
    »Nee. Ich will überhaupt keinen Kaffee.«
    »Orangensaft?«
    »Hast du ’ne Coke?«
    »Leider trifft mich dein Besuch unvorbereitet. Das nächste Mal   …«
    »Ist ja egal. Dann eben nichts.«
    »Hunger?«
    »Nee.«
    »Was treibt dich dann hierher?«
    »Wollte dich besuchen.«
    »Ja, Philipp, und ich bin der Kaiser von China. Raus damit!«
    »Was denn?«
    »Du bist aus einem bestimmten Grund hier. Den will ich jetzt hören.«
    »Willst du nicht.«
    Etwas an Philipps Tonfall lässt ihn aufhorchen. Paul nimmt seine Tasse, setzt sich auf die andere Seite des Tisches, nippt
     müde an seinem brühheißen Kaffee, hebt den Kopf, sieht Philipp zum ersten Mal an diesem Abend richtig an, und erschrickt.
    »Was ist los?«, fragt er wieder und begreift in derselben Sekunde, dass er es tatsächlich nicht wissen will. Aber jetzt ist
     es zu spät.
     
    Als Philipp gegangen ist, öffnet sich Paul sein erstes Bier. Er trinkt nie vor acht Uhr abends, ein bewährtes Ritual, mit
     dessen Hilfe er seine angeborene Gier nach Alkohol in Schach hält, schließlich will er nicht enden wie sein Vater. Hans Schuld,
     ein Name, mit dem man nicht als Therapeut arbeiten kann. Weswegen Paul noch während des Studiums den Nachnamen seines Stiefvaters
     annahm. Er schenkt sich das Bier mit einer gewissen Vorsicht ein, nimmt einen kleinen Schluck, fühlt, wie der Schaum auf seiner
     Oberlippe prickelt und wie sich augenblicklich alles in ihm beruhigt, die Probleme verblassen, die Welt aufhört, ihm zu nahe
     zu rücken.
    Sein Vater ist seit einundzwanzig Jahren tot, er starb ungefähr in dem Alter, in dem Paul jetzt ist. Mit dem neuen Mann seiner
     Mutter konnte er sich nie anfreunden.
    Drei Bier pro Abend,

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