Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
Nähseide in meiner Nähschachtel habe.«
»Das ist kein Problem«, beeilte ich mich, ihr zu versichern. »Ich gehe gleich heute los und kaufe welche.«
Nugent ließ mich allein. Ich breitete den Hausmantel auf dem Bett aus und starrte das wunderbare Kleidungsstück an, während ich versuchte, meine Gefühle zu sortieren.
Es war nicht nur verletzter Stolz, den ich verspürte. Offensichtlich war mein Mangel an Garderobe bemerkt worden. Es wäre falsch von mir, daran Anstoß zu nehmen, trotz der Peinlichkeit. Ich sagte mir, dass ich nicht undankbar sein durfte für ein Geschenk, das wohlwollend gemeint war. Doch hatte wirklich nur Wohlwollen eine Rolle dabei gespielt? Tante Parry wollte nicht, dass ich Abend für Abend im gleichen Kleid zum Dinner erschien. Das wäre ihr sicher nicht recht, wurde mir klar, und ich konnte es verstehen. Doch es war nicht dieser Gedanke, der Misstrauen in mir aufsteigen ließ – es gab noch eine andere Erklärung, eine Erklärung, die mir überhaupt nicht gefiel.
Seit meinem Gespräch mit Tante Parry am vorangegangenen Tag vertraute ich ihren Beweggründen nicht länger. Sie hatte rasch gemerkt, dass ihre Reaktion auf die Nachricht meiner Kinderbekanntschaft mit dem Inspector bei mir schlecht angekommen war. Sie wollte jeden nachteiligen Eindruck auslöschen, den sie möglicherweise hinterlassen hatte. Außerdem wollte sie mich auf ihrer Seite wissen; das war unbedingt erforderlich, falls sie meine Verbindung zu Ross ausnutzen wollte. In diesem Licht betrachtet sah der wunderschöne Hausmantel plötzlich aus wie ein ärmlicher Bestechungsversuch.
Ich ging sogleich zu Tante Parrys Zimmer, um mich bei ihr für das Geschenk zu bedanken. Zögern würde mich nur noch weiter verwirren und meine Dankesrede stockender machen. Ich fand sie im Bett auf einem Berg von Kissen sitzend vor. Sie trug ein rüschenbesetztes Nachthemd sowie eine Spitzenhaube und trank Tee aus einer hauchdünnen Porzellantasse mit Rosenmuster. Sie hatte ihre Morgenpost gelesen, doch als ich kam, legte sie diese beiseite und empfing mich und meinen Dank großzügig, bevor sie mich wieder nach draußen winkte und mir beschied, ich solle später noch einmal zurückkehren, damit wir darüber sprechen könnten. Ich ging, nicht ohne zu bemerken, dass einer der Briefe den Kopf der Eisenbahngesellschaft trug.
Ich nahm an, dies bedeutete, dass ich erst viel später Zeit finden würde, um nach draußen zu gehen und meine Einkäufe zu erledigen. Und richtig, gegen elf Uhr erschien Nugent erneut und richtete mir aus, dass Mrs Parry nun ihre Meinung äußern wollte, was wir mit der Tussahseide anfangen sollten, und so begaben wir uns ein weiteres Mal in ihr Boudoir. Inzwischen hatte Tante Parry Zeit zum Aufstehen gefunden, und wir fanden sie vor ihrem Schminktisch, das Haar hübsch in Locken gelegt und festgesteckt, sodass nur noch ein paar Schmachtlocken an den Seiten ihrer plumpen Wangen herabhingen. Statt eines Frisiermantels trug sie einen Seidenkimono, der mit einem Chrysanthemenmuster bestickt war. »Ebenfalls aus dem Osten!«, flüsterte mir Nugent ins Ohr.
Was den Schminktisch anging, so glaube ich nicht, dass ich je zuvor so viele weibliche Toilettenartikel auf einer so kleinen Stellfläche gesehen hatte. Parfumflakons aus Glas auf Dosen mit Handcremes, daneben Flaschen mit Hautwassern, kleinen Töpfen Rouge, Bürsten, Kämmen, Nadeln und Lockenzangen. Von der Korrespondenz, die sie vorher gelesen hatte, war keine Spur mehr zu sehen.
Nugent und ich erklärten unsere Absichten bezüglich des Kleids, und Tante Parry meinte, es würde wohl gehen, doch ob wir nicht vielleicht …? Gefolgt von einer langen Liste von Vorschlägen, die ausnahmslos wenig praktikabel waren. Ich nahm an, dass, falls Tante Parry – abgesehen von den obligatorischen Stickarbeiten – überhaupt in ihrer Jugend genäht hatte, sich dies auf das Säumen von Taschentüchern und das Stopfen von Strümpfen beschränkt hatte. Nugent und ich lauschten aufmerksam und dankten ihr, doch wir wechselten Blicke und versicherten uns auf diese Weise, dass wir an unserem ursprünglichen Plan festhalten würden.
»So setz dich doch, meine Liebe«, forderte Tante Parry mich auf, nachdem Nugent mit dem Kleid aus Tussahseide gegangen war.
Ich nahm auf einem kleinen samtbezogenen Hocker Platz.
»Ich habe mehr im Sinn gehabt als nur deine Garderobe, meine Liebe. Ich habe ganz allgemein eine Menge nachgedacht«, begann Tante Parry. Sie zögerte, um zu seufzen,
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