Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
ihre Leiber mager. Sie standen dicht beieinander und beobachteten die Vorgänge ringsum mit nervösen Blicken. Ich war wütend, dass sie hier waren, nicht nur wegen der Art, wie sie von ihren Familien ausgenutzt und an Männer verkauft wurden, die begierig auf ihre Dienste waren, sondern auch, weil ein Polizeirevier nicht der richtige Ort war, an den man derart unglückliche Opfer der Gesellschaft verbringen sollte, um sie einer Strafe zuzuführen.
Watkins war ein Mann von etwa vierzig Jahren mit einer gelblichen Hautfarbe und einer weltverdrossenen Aura. Er empfing mich, als wäre mein Besuch eine weitere Bürde auf seinen überlasteten Schultern. Er lauschte leidenschaftslos, während ich den Zweck meines Besuchs erläuterte und sagte, dass er meines Wissens imstande sei, mir ein paar Informationen über einen gewissen Dr. Tibbett zukommen zu lassen.
»Ja, ich kann Ihnen etwas über einen Dr. Tibbett verraten«, antwortete er. »Ob es allerdings der gleiche Dr. Tibbett ist, werden Sie schon selbst herausfinden müssen. Das Ganze ist zwei Jahre her. Es gibt mehrere teure Freudenhäuser in diesem Bezirk. An jenem speziellen Abend stolperte ein neuer Kunde eines dieser Etablissements auf dem Korridor über den ermordeten Leichnam einer der Frauen, die dort arbeiteten. Sie war halb ausgezogen und schlecht versteckt hinter ein paar Vorhängen. Der unglückliche Kunde war sozusagen ein Novize in derartigen Etablissements. Wäre er erfahrener gewesen, und hätte er einen klareren Kopf behalten, würde er gemacht haben, dass er von dort verschwindet, so schnell er nur konnte. Stattdessen und zu unserem Glück geriet er in Panik und rannte schreiend auf die Straße hinaus, bevor die Bordellwirtin ihn daran hindern konnte. Dort lief er durch Zufall direkt in eine Polizeistreife. Sie kamen sofort ins Haus und hinderten jeden anderen Gast daran, es zu verlassen. Sie können sich vorstellen, welchen Aufruhr sie damit verursachten.«
Watkins erlaubte sich ein schwaches Grinsen.
Ich konnte es mir in der Tat sehr gut vorstellen. Nach außen hin respektable Männer in allen möglichen Berufen, die sich vor Angst in die Hosen machten und auf jede nur erdenkliche Weise versuchten, das Etablissement zu verlassen, ohne ihren Namen und ihre Adresse zu nennen.
»Tibbett war unter ihnen?«, vermutete ich.
»Das war er. Ich wurde zum Tatort gerufen, und ich habe ihn persönlich vernommen. Ich erinnere mich sehr gut an ihn. Ich habe noch nie zuvor so viel hochgestochene Rhetorik und Bombast gehört. Er bestritt vehement, als Kunde in jenem Etablissement gewesen zu sein, und wehrte sich mit allen Mitteln gegen die Aufnahme seiner Personalien. Er sagte, er wäre lediglich zu Forschungszwecken dort gewesen, weil er die organisierte Unmoral in London im Hinblick auf eine Kampagne untersuchen wollte, welche zum Ziel hätte, die betroffenen jungen Frauen zu bessern und aus diesem Sumpf zu erretten. Ich sage Ihnen, Mr Ross, unter diesen Umständen hört man so gut wie jede Ausrede, doch das verschlug mir die Sprache!«
»Haben Sie den Mörder gefunden?«
»Haben wir. Es war ein Bursche namens Phelps. Er war Stammgast in diesem Freudenhaus und hatte immer nach dem gleichen Mädchen gefragt. Wie es hin und wieder geschieht, wenn ein Mann ein regelmäßiger Kunde bei der gleichen Prostituierten ist, wurde er ein wenig besitzergreifend und entwickelte ein gewisses Maß an Eifersucht. Phelps war ein Geschäftsmann und auf seinem Gebiet einigermaßen erfolgreich, doch er war gehemmt in Gegenwart von Frauen. Er hatte angefangen, sich einzubilden, dass diese Prostituierte ihn mehr mochte als ihre anderen Kunden, und er hatte ihre professionellen Worte der Freude, wenn er sie besuchen kam, als echte Zuneigung interpretiert. Er wollte, dass sie das Bordell verließ, und ihr eine Wohnung einrichten, doch sie weigerte sich. Vor jenem fatalen Abend hatte sie mit den anderen Mädchen über Phelps geredet und ihnen erzählt, dass sie ihn eigentlich überhaupt nicht mochte und sein Verhalten eigenartig fand, hartnäckig und ein wenig bedrohlich. Als Phelps schließlich einsah, dass sie nicht mit ihm kommen würde, geriet er in Rage und erdrosselte sie.«
»Erdrosselte sie?«, fragte ich rasch.
»Ja, erdrosselte sie«, wiederholte Watkins ein wenig irritiert. »Er war nur allzu begierig darauf, uns alles zu erzählen. Wie nicht anders zu erwarten, bedauerte er später seine Bereitwilligkeit zu einem Geständnis und versuchte, alles zu widerrufen. Der
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