Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
aus.
»Wenn du so weitermachst, Lizzie Martin, endest du noch in der Leihbücherei wie die arme Madeleine Hexham!«, sagte ich laut.
Gedankenverloren strich ich mit dem Finger am Rand der Frisierkommode entlang und folgte den Umrissen der Blumenintarsie in Girlandenform. Wie hübsch dieses Möbelstück früher einmal gewesen sein musste! Ich stellte mir die georgianische Lady vor, die hier gesessen hatte, während ihre Zofe ihr das Haar gepudert hatte.
Ein beinahe unhörbares Klicken riss mich aus meinen Gedanken. Es war aus der Kommode gekommen, und es rührte nicht von einem lockeren Verbindungsstück oder einem losen Element der Intarsie her. Ich wiederholte die Bewegung, die ich mit dem Finger vollführt hatte, doch es erklang nicht noch einmal. Nichtsdestotrotz, meine Bewegung hatte irgendeinen Mechanismus in der Kommode ausgelöst.
Ich begann, systematisch mit den Händen über die Tischplatte zu streichen, an den Kanten entlang und unter dem Rand. Da! Eine kleine Schublade glitt hervor. Sie war durch ein geschicktes Muster und Schichten aus alter Politur und Schmutz verborgen gewesen.
Es war eine flache Schublade, ein Versteck, in dem meine georgianische Lady ihre Korrespondenz vor den neugierigen Augen von Dienern oder vielleicht auch des Ehemannes verborgen hatte. Sie enthielt ein kleines, in Seide eingeschlagenes Buch. Ich zog es hervor und schlug es auf.
Es war ein Tagebuch, allerdings kein altes. Die Eintragungen fingen im Juni des vorangegangenen Jahres an. Es musste Madeleines Tagebuch sein! Die meisten Tagebücher fangen im Januar an; im Juni mit den Eintragungen zu beginnen erschien mir ein wenig seltsam, aber vielleicht war sie eben erst in London angekommen und hatte deswegen mit einem neuen Tagebuch angefangen.
Ich hatte nie ein Tagebuch geführt, obwohl ich wusste, dass es für die meisten jungen Frauen normal war. Doch was hätte ich in meines schreiben sollen, wäre ich je auf den Gedanken gekommen? Ich ging nicht auf Partys oder zu Bällen. Das einzige Theater in unserer Stadt war ein zweifelhaftes Varieté gewesen, auf dessen Bühne, wie ich von Mary Newling erfahren hatte, Frauen in fleischfarbenen Strümpfen und Satinkorsagen unzüchtige Lieder sangen und rotnasige Männer in grellen Jacketts obszöne Witze erzählten. Ich war vielleicht neugierig, mich selbst davon zu überzeugen, doch das wäre wohl kaum schicklich gewesen. Mir waren keine interessanten Leute bekannt, keine Reisenden, die aus exotischen Ländern zurückgekehrt waren, und Flirts waren etwas, das ich nur vom Hörensagen kannte.
Was hatte ich stattdessen getan? Vor dem Tod meines armen Vaters, kaum dass ich alt genug gewesen war, hatte ich die Haushaltsbücher und die Verwaltung des Hauses im Allgemeinen übernommen. Die alternde Mary Newling hatte bis zum Schluss über ihre Küche geherrscht. Ich hatte über den Rechnungen von Metzger und Gemüsehändler gebrütet. Ich hatte nach Handwerkern gesucht, die auf das Dach geklettert waren und die von den Winterstürmen gelockerten Ziegel gerichtet hatten. Ich hatte repariert, gestopft und kleine Schäden an den Möbeln ausgebessert. Ich hatte mich um die Patienten gekümmert, wenn mein Vater unterwegs gewesen war und anderswo gebraucht wurde. Ich hatte ihre Nachrichten entgegengenommen und Nachrichten von Vater an sie weitergeleitet. Ich war todmüde gewesen am Ende eines jeden Tages und hatte sicherlich keinerlei Neigung verspürt, all dies einem Tagebuch anzuvertrauen. Ganz bestimmt nicht!
Und zwischen dem Tod meines Vaters und meiner Ankunft in London hatte ich alle Hände voll zu tun gehabt, um nicht ins Armenhaus zu müssen. Ich hatte nicht einen Gedanken daran verschwendet, ein Tagebuch zu schreiben. Doch Madeleine hatte eines geführt, und hier lag es, in meinen Händen. Hier in diesem Buch standen ihre geheimsten Gedanken, ihre Wünsche und Träume. Ich würde erfahren, wie sie ihre Tage verbracht und wen sie kennen gelernt und mit wem sie gesprochen hatte.
Aufregung veranlasste mein Herz zu wildem Pochen; trotzdem verspürte ich eine natürliche Abneigung bei dem Gedanken, die geheimsten Gedanken und intimsten Enthüllungen eines anderen Menschen zu lesen. Andererseits musste sich hier doch wohl ein Hinweis auf ihren späteren Mörder finden, oder nicht? Ich klappte Madeleines Tagebuch auf.
Die Handschrift war winzig, doch regelmäßig, jeder Buchstabe sorgfältig geformt, als hätte sie sich im Klassenzimmer damit abgemüht. Die ersten Einträge waren recht
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