Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
langweilig. Mrs Parry hatte unter Migräneanfällen gelitten, und Madeleine hatte sich, wenn sie ihr nicht dienlich gewesen war, mit dem Lesen ihrer bevorzugten Lektüre die Zeit vertrieben. Es gab eine Reihe von Zusammenfassungen der Handlungen der Bücher, die sie sich aus der Leihbibliothek mitgebracht hatte. Nicht, dass diese langweilig gewesen wären, all die edlen Damen, die von Straßenräubern überfallen wurden und sich in die Missetäter verliebten, welche sich unweigerlich als Gentlemen erwiesen, oder die armen Mädchen von bewundernswertem Charakter, die sich den Avancen widerlicher Lebemänner widersetzten, bis sie schließlich von einem galanten Bewunderer mit gutem Charakter errettet wurden … das heißt, wenn sich der Lebemann nicht unter dem Einfluss des armen, aber respektablen Kindes änderte und ihm die Heirat anbot, zusammen mit einem Landhaus, einem Wohnsitz in der Stadt und einem privaten Fuhrwerk. Das Leben in Madeleines Phantasie war jedenfalls alles andere als langweilig gewesen. Doch es wurde rasch offensichtlich, dass die Linie zwischen Phantasie und Wirklichkeit bei der Tagebuchschreiberin verschwamm. Die arme Madeleine, sie hatte nicht nur eine kindliche Handschrift behalten, sondern war auf mehr als eine Weise stets ein Schulmädchen geblieben.
Denn Madeleine glaubte fest daran, dass diese Dinge wirklich passierten. Sie sehnte sich danach, selbst ein solches glückliches Abenteuer zu erleben. Schlimmer noch, irgendwann erschien ein Held auf den eng beschriebenen (und, wie ich sagen muss, fehlerstrotzenden) Seiten.
Er wurde nicht namentlich genannt, das war das Frustrierende daran. Mit einer Schüchternheit, die mich zornig machte, schrieb sie nur in der dritten Person von ihm. Er ! Und das Fürwort war stets unterstrichen.
Er saß mir heute Nachmittag beim Whist gegenüber, und seine Blicke ruhten ununterbrochen auf mir.
Wahrscheinlich hatte er überlegt, welchen Fehler seine Mitspielerin als Nächstes machen würde.
Heute Nachmittag kam Besuch, und die Unterhaltung war sehr lebhaft, wenngleich sie die meiste Zeit über von Mrs B beherrscht wurde. Ich saß schweigend in meiner Ecke, doch Er hat mich ständig beobachtet.
Heute Morgen kam ich von der Bücherei zurück und bin Ihm durch den glücklichsten aller Zufälle begegnet …
Mrs B? Das war so gut wie sicher Mrs Belling, eine Dame, die dazu neigte, jede Konversation zu dominieren. Die ›zufällige‹ Begegnung? Wer war geschickt daran, zufällige Begegnungen zu arrangieren? Dieser Er konnte nur James Belling sein, dachte ich bestürzt. Genau das, was ich insgeheim befürchtet hatte. Madeleine hatte James’ freundlich gemeintes Interesse falsch gedeutet. Sie hatte ihr eigenes Interesse gezeigt und erwidert, was sie für ernsthafte Avancen gehalten hatte. War James der Versuchung erlegen zu akzeptieren, was diese vernarrte junge Frau ihm so offensichtlich angeboten hatte, und dann in Panik geraten?
Ich saß mit dem Tagebuch in den Händen da und dachte eine Weile nach. Ross musste dieses Tagebuch unbedingt sehen, und ich musste es so schnell wie möglich zu ihm bringen. Glücklicherweise, wie sich jetzt herausstellte, war Tante Parry für den Rest des Tages in ihrem Schlafzimmer und wollte nicht gestört werden; also hatte ich eine exzellente Ausrede, warum ich ihr nicht vorher sagte, was ich vorhatte. Sie würde darauf bestehen, das Tagebuch zu sehen, und wenn sie zu der gleichen Schlussfolgerung gelangte wie ich, würde ich es nicht wieder zurückbekommen, und weder Ross noch irgendjemand sonst es jemals lesen. Tante Parry würde alles unternehmen, um ihre Freundin Mrs Belling zu schützen und die Polizei von einem erneuten Auftauchen in ihrem Haus am Dorset Square und in ihrem engen Freundeskreis abzuhalten. Ich wusste inzwischen, dass sie in diesen Dingen sehr skrupellos sein konnte. Es war ihr völlig gleichgültig, ob Madeleines Mörder vor Gericht gestellt wurde, oder zumindest wollte sie es nicht, solange es die Gefahr eines Skandals bedeutete, in den sie hineingezogen wurde.
Rasch setzte ich mir einen Hut auf, steckte ihn fest und nahm eine leichte Wolljacke in Anbetracht des kühlen Wetters, um anschließend aus dem Haus zu schlüpfen, ohne dass es einer der Dienstboten bemerkte. Ich hatte eine Handtasche mit einem Durchziehband bei mir, doch das Tagebuch war gut versteckt in einer Tasche meines Kleids. Ich hatte mich rechtzeitig an die Episode mit dem älteren Gentleman erinnert, der auf der Oxford Street
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