Wer sich in Gefahr begibt - Granger, A: Wer sich in Gefahr begibt - A Rare Interest in Corpses
merkwürdig vertraut vor, als wäre der Doktor ein alter und geschätzter Freund – und Kunde natürlich.
Dann waren sie außer Sicht verschwunden. Ich war außerstande, mich zu beherrschen, und platzte wütend hervor: »Dieser elende alte Heuchler!«
»Wieso denn, Miss? Es ist doch alles in Ordnung«, sagte Bessie neben mir. »Das ist es doch, was alle Gentlemen tun, oder nicht?«
Bei ihren Worten huschte ein Bild durch meinen Kopf: das von Frank Carterton an meinem ersten Abend in London, der spätnachts das Haus verlassen hatte, nachdem seine Tante und ich zu Bett gegangen waren, und dabei munter seinen Spazierstock mit dem silbernen Griff geschwungen hatte. In diesem Augenblick setzte die Drehorgel wieder ein, als wolle mich die plötzliche Kakophonie aus blechernen Tönen verspotten.
Ich verdrängte das Bild aus meinen Gedanken, zusammen mit dem Krach der Musik, und erinnerte mich wieder daran, mit wem ich hier war und aus welchem Grund. Mir wurde außerdem bewusst, dass der Ladeninhaber beobachtet hatte, wie wir im Eingang herumlungerten. Nun stand er im Begriff, uns in sein Geschäft zu nötigen und die feilgebotenen Waren zu inspizieren.
»Bessie!«, sagte ich entschieden. »Du darfst mit niemandem, unter keinen Umständen, darüber sprechen, dass wir heute Dr. Tibbett gesehen haben, niemals! Verstehst du, was ich sage? Niemand unten im Souterrain darf etwas davon erfahren und auch keine von deinen Freundinnen. Es ist von allergrößter Wichtigkeit!«
»Schon gut, keine Sorge«, entgegnete Bessie unbeeindruckt. »Ich sag schon nichts. Mrs Simms hält den Reverend für ein wandelndes Wunder, und wenn ich etwas sagen würde, würde sie mich mit einem Suppenlöffel windelweich prügeln.«
Die zweite junge Frau hatte uns unterdessen erreicht, doch wir waren für sie nicht von Interesse, und sie schlenderte vorbei. Aus der Nähe betrachtet erkannte ich, dass trotz ihrer Jugend und der Schönheit eine Härte in ihren Gesichtszügen und Augen lag, die einen jungen Geist verrieten, der korrumpiert war und zerstört. Ich verspürte große Traurigkeit deswegen und fragte mich, in welchem zarten Alter sie mit dieser Art zu leben angefangen hatte und welche Zukunft vor ihr lag – wenn überhaupt.
Wir marschierten weiter, und das Geleier der Drehorgel verklang allmählich hinter uns. Endlich erreichten wir unser Ziel. Der Verkehr schien hier noch hektischer zu sein, falls das überhaupt möglich war. Kutschen und private Fuhrwerke trafen ein und entließen Ströme von Passagieren beiderlei Geschlechts und jeglichen Alters, zusammen mit Kisten, Schachteln, Taschen und gelegentlich einem Haustier. Träger kamen aus dem Bahnhofsgebäude herbeigerannt, um ihre Geschäfte zu machen. Andere Passagiere zusammen mit ihren beladenen Trägern stolperten aus dem Bahnhof und standen dort und starrten mit genau den gleichen verwirrten Blicken auf die Szene vor ihren Augen, wie ich es bei meiner Ankunft in London getan hatte. Und rings um sie herum spazierten die gewohnheitsmäßigen Müßiggänger: zweifelhafte junge Männer und noch mehr Frauen, Schwestern der beiden, die mit Tibbett gesprochen hatten, dazu Bettler und Gassenkinder.
»Passen Sie auf Ihre Geldbörse auf, Miss!«, empfahl mir Bessie. »Hier am Bahnhof gibt es eine Unmenge von Taschendieben.«
Doch ich suchte bereits die Droschkenreihe ab. »Halt die Augen offen, Bessie. Versuch, den Growler zu finden, der Miss Hexham an jenem Tag abgeholt hat. Sag mir sofort Bescheid, wenn du ihn siehst, bevor er einen anderen Fahrgast einlädt und wir ihn verlieren!«
Ich fürchtete, dass wir lange würden warten müssen oder vielleicht sogar erfolglos bleiben würden, denn es gab keine Garantie, dass Mr Slater hierher zurückkommen würde. Er mochte unterwegs angehalten werden und so reichlich zu tun haben, dass er den ganzen Vormittag nicht zum Bahnhof kam. Zwanzig Minuten später dachte ich allmählich, dass unsere Mühe vergeblich gewesen war.
Ich wurde bereits mit merkwürdigen Blicken bedacht. Ein, zwei Männer grinsten mich an, und einer tippte sich an die Mütze und entbot mir keck die Tageszeit: »Morgen, Süße.«
Bei diesen Worten zeterte meine kleine Anstandsdame entrüstet los: »Hey! Wag es nicht, meine Herrin Süße zu nennen, Bursche! Das ist sie nicht und wird sie wohl auch niemals sein!«
Schließlich kam einer der Kutscher zu uns und erkundigte sich, ob ich ein Taxi benötigte. Ich sagte Nein und teilte ihm mit, dass ich hoffte, Wally Slater
Weitere Kostenlose Bücher