Wer sich nicht fügen will
losgefahren. Die durchwachte Nacht stand ihm ins Gesicht geschrieben, sein Bart war länger als sonst und schien grauer geworden zu sein. Bevor ich die Tür öffnete, zog ich Latexhandschuhe an und hielt Saarnio ebenfalls ein Paar hin. Er sah mich ernst an und streifte dann die Handschuhe über.
Mit der Schlüsselkarte ließ sich die Tür problemlos öffnen. Ich machte das Licht im Flur an und rief: »Polizei! Ist da jemand?«
Es kam keine Antwort.
»Riitta!«, rief Arto Saarnio, doch es blieb still. Die Stille wirkte wie dichtes, unsichtbares Giftgas, ich bekam kaum Luft. Die Türen zu den Garderoben standen halb offen, aus einer roch es intensiv nach Rasierwasser. Ich ging weiter zu dem Büro- und Konferenzzimmer, in dem ich Riitta Saarnio befragt hatte, knipste das Licht an und trat ein, gefolgt von Arto Saarnio.
Seine Frau lag zusammengekrümmt vor dem Tisch auf dem Fußboden.
»Komm nicht näher«, sagte ich zu Saarnio, der zunächst zögerte, dann aber stehen blieb. Ich trat zu seiner Frau und fasste nach ihrem Handgelenk. Es fühlte sich steif und kalt an, Riitta Saarnio war seit mehreren Stunden tot. Dennoch fühlte ich nach dem Puls, natürlich erfolglos. Das Gesicht der Toten war von mir abgewandt, ich musste um sie herumgehen, um es zu sehen. Es war vor Schmerz und Wut verzerrt wie das eines Tieres, das in eine Falle geraten und verendet war. Bildete ich es mir nur ein, oder verströmte die Leiche tatsächlich Bittermandelgeruch?
»Ist sie …« Den Rest des Satzes brachte Arto Saarnio nicht über die Lippen.
»Ja, sie ist tot. Mein Beileid. Nein, bitte noch nicht berühren! Vielleicht ist es besser, wenn Sie auf den Flur gehen.«
Saarnio gehorchte. Ich rief auf dem Präsidium an und bat, die Spurensicherung zu schicken. Erst da bemerkte ich den Brief. Er lag auf dem Fußboden neben der Leiche, womöglich war er heruntergefallen, als die Frau verzweifelt gegen den Tod kämpfte. Ich beugte mich über ihn und entdeckte zu meiner Überraschung meinen eigenen Namen.
»Zu Händen von Kommissarin Maria Kallio.
Ich habe Lulu Nightingale getötet und auch ihren Leibwächter, der mich erpressen wollte. Ich glaubte, mein Mann wäre Lulu Nightingales Kunde; diese Vorstellung war mir unerträglich. Der Leibwächter hatte mich offenbar beobachtet, als ich das Gift in Lulus Glas schüttete. Ich nehme mir auf die gleiche Weise das Leben, wie ich Lulu getötet habe. Verzeiht mir.«
Der Brief war mit dem Computer geschrieben und auf einem Briefbogen der West Man Productions ausgedruckt worden. Die Unterschrift war gut leserlich, darunter stand der Name noch einmal in Druckschrift: Riitta Saarnio. Ich ließ den Brief liegen. Eine genauere Untersuchung musste warten, bis die Fundstelle fotografiert worden war.
Im Raum war es kühl, als hätte jemand die Heizung abgedreht. Der Computer war ausgeschaltet, der Papierstapel daneben ordentlich aufgeschichtet. Das Glas, aus dem Riitta Saarnio offensichtlich das Gift getrunken hatte, war unter den Aktenschrank gerollt, die Giftflasche konnte ich nirgends sehen. Da ich keine Überschuhe bei mir hatte, hielt ich es für besser, das Zimmer ebenfalls zu verlassen, um nicht sämtliche Spuren zu verwischen.
Arto Saarnio stand mit versteinertem Gesicht auf dem Flur. Er hielt sein Mobiltelefon in der Hand, benutzte es aber nicht.
»Die Spurensicherung wird bald eintreffen. Setzen wir uns so lange dorthin.« Ich zeigte auf die Garderobe, in der Lulu Nightingales Leiche gefunden worden war. Ob der Gast, dem der Raum gestern zugewiesen worden war, wohl gewusst hatte, wo er sich befand? Ich schob zwei Stühle an den Tisch.
»Wie ist Riitta gestorben?«, fragte Saarnio schließlich. Ich antwortete nicht, und er schien mein Schweigen zu verstehen. Als ich ihn fragte, wann er seine Frau zuletzt gesehen hatte, dachte er eine ganze Weile nach.
»Am Mittwochmorgen«, erwiderte er dann. »Als ich am Abend nach Hause kam, schlief sie schon. Wir haben getrennte Schlafzimmer. Und gestern früh bin ich mit der Acht-Uhr-Maschine nach Stockholm geflogen. Riitta lag noch im Bett, als ich aus dem Haus ging.«
Ich hatte Riitta Saarnio am Mittwochvormittag vernommen, war also über ihren aktuellen Gemütszustand womöglich besser informiert als ihr Mann. Mittwochs hatte sie ihren Französischkurs. Ich musste die Freundin anrufen, mit der sie den Kurs besucht hatte – und Anna-Maija Mustajoki.
»Ich habe ihr am Dienstagabend von Oksana erzählt, und sie war völlig außer sich. Das
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