Wer sich nicht fügen will
getraut, Lulu anzurufen oder mich am Telefon zu melden.«
Ich musste mich anstrengen, um ihren schnell und atemlos hervorgestoßenen Bericht zu verstehen.
»Wir sind Freunde. Wir möchten, dass du in Sicherheit bist«, versicherten Ursula und ich gemeinsam. »Du musst in die Klinik mit deinen Wunden. Du hast sicher große Schmerzen«, fügte ich hinzu. Oksana nickte.
»Die Medikamente, die Lulu mir gegeben hat, sind alle. Die Schmerzen sind schlimm, aber ich habe schon Schlimmeres erlebt. Abtreibungen. Manche Freier sind böse, und Jev…« Oksana unterbrach sich, ich vervollständigte ihren Satz:
»Jevgeni Urmanov hat dich …« – da mir das russische Wort für schlagen nicht einfiel, machte ich eine Geste.
Oksana versuchte ihre Reaktion zu verbergen, doch als sie den Namen hörte, erschrak sie. Ich sah sie unverwandt an, sie schlug die Augen nieder und starrte in ihre Teetasse. Sie hatte kleine Hände mit schmalen Fingern, der Nagellack war bis auf kleine dunkelrote Reste abgeblättert.
»Habt ihr Zigaretten?«, fragte sie.
»Nein. Mischin – ist er dein Boss?«
Oksana antwortete nicht, doch ihre Augen sagten mir, was ich wissen wollte. Für Nordström wäre sie ein Geschenk des Himmels. Aber wollte ich den Kollegen von der Zentralkripo wirklich mitteilen, dass wir Oksana gefunden hatten? Als Opfer eines tätlichen Angriffs konnten wir sie nach ihrer Aussage nicht mehr betrachten, doch da sie Lulu noch am Tag vor deren Tod getroffen hatte, wollte ich sie mit Hilfe eines Dolmetschers eingehender als Zeugin vernehmen. Also beschloss ich, gegenüber der Zentralkripo vorläufig Stillschweigen zu bewahren. Infolgedessen durfte auch Kaartamo nichts von Oksana wissen.
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos strichen über das Haus, für kurze Zeit wurde es so hell, dass man den Staub tanzen sah. Als ich Oksana erklärte, sie müsse in die Klinik, schüttelte sie den Kopf.
»Da finden sie mich. Ich will nicht! Ihr erzählt es wieder den Zeitungen, dass ich im Krankenhaus bin. Die Polizei will zeigen, wie schlau sie ist.«
»Wir sagen den Zeitungen nichts, und für Bewachung sorgen wir auch. In der Klinik bist du sicher«, versuchte ich sie zu überzeugen. Schließlich erklärte sie sich bereit mitzukommen. Ihr blieb kaum eine andere Wahl. Es musste furchtbar gewesen sein in der immer kälter werdenden Hütte, ohne Nahrung, ohne die geringste Idee, wen sie um Hilfe bitten konnte. Offenbar hatte sie den Nachrichten auch ohne Finnischkenntnisse entnommen, dass Lulu tot war.
Ich fragte sie, warum sie nicht bei Arto Saarnio angerufen hatte. Oksana erklärte, seine Nummer sei auf ihrem eigenen Handy gespeichert, dass in Espoo zurückgeblieben war, und sie habe nicht gewusst, wie man die Auskunft anruft.
Ich wischte alle Flächen ab, die Ursula und ich möglicherweise berührt hatten. Dass Oksanas Fingerabdrücke zurückblieben, ließ sich nicht ändern. Lulu Nightingales Eltern würden nicht unbedingt bemerken, dass eine Kollegin ihrer Tochter in ihrem Ferienhaus Unterschlupf gesucht hatte. Die spärliche Einrichtung bestätigte, was Autio und Puustjärvi über Lulus Eltern berichtet hatten: Das Geld reichte gerade für das Nötigste. Ich strich ein Stickdeckchen glatt, das ein Katzenjunges zeigte und am Rand ausfranste.
Oksanas Pelzmantel lag unter den Decken auf der Schlafcouch. Er war feucht, offenbar hatte Oksana versucht, das Blut auszuwaschen. Hinter einem Stuhl entdeckten wir die hochhackigen Stiefel, in denen sie kurz darauf zum Auto stakste.
Ursula fuhr, ich setzte mich zu Oksana auf die Rückbank, einerseits um sie im Auge zu behalten, andererseits um ihr Vertrauen zu gewinnen. Unterwegs rief ich in der Klinik an und teilte mit, dass wir die vor anderthalb Wochen verschwundene Patientin brachten. Anschließend organisierte ich den Personenschutz. Dafür musste zwar pro Schicht ein Streifenbeamter abgezogen werden, doch das ließ sich nicht ändern.
Ich versuchte herauszubekommen, welche Überraschung Lulu für die Talkshow angekündigt hatte, doch meine Sprachkenntnisse reichten dazu nicht aus, und Oksana war zu erschöpft, um Englisch zu sprechen. Sie schien sich ihrem Schicksal ergeben zu haben, legte den Kopf auf die Lehne und schloss die Augen. Im dunklen Wagen war der Eitergeruch deutlich wahrzunehmen. Nach langem Hin und Her erklärte Oksana, Lulu habe versprochen, am Freitag, dem Elften, gleich nach der Talkshow, mit Lebensmitteln und Geld zurückzukommen. Danach schwieg sie und
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