Wer sich nicht fügen will
die Vermutung nahe, dass der Schütze genau hier gestanden hatte, am Geländer vor dem Kino. Ich steckte die Hände in die Tasche und versuchte mir vorzustellen, dass ich einen Revolver hielt. Mit dem Mantel als Sichtschutz hätte man unbemerkt zielen können. Vielleicht auch mit einer abgesägten Schrotflinte, aber mit einem Gewehr … Es wollte mir nicht in den Kopf, wie das möglich sein sollte.
Mein Handy klingelte, Mira rief an. Ich sah sie im Café im Erdgeschoss stehen, sie winkte mir zu. Ihre Stimme klang gleich zweimal an meine Ohren: aus dem Telefon und sehr leise von unten herauf.
»Zwischenbericht aus der Klinik. Sulonen liegt auf dem OP-Tisch, das Geschoss sitzt noch in seinem Kopf. Sein Zustand ist kritisch. Schädel und Gehirn sind schwer geschädigt. Wir bekommen Nachricht, sobald es etwas Neues gibt, aber die Operation wird voraussichtlich mehrere Stunden dauern. Ich habe gebeten, alle Informationen direkt an dich zu leiten.«
»Danke«, erwiderte ich. Was Kaartamo dazu sagen würde, konnte ich mir denken. Wir mussten uns tatsächlich absprechen. Bei einer derart umfangreichen Befragungsaktion war es ratsam, die Verantwortung zu teilen. Es wunderte mich, dass Kaartamo nicht sofort die Zentralkripo eingeschaltet hatte.
In Situationen dieser Art war die Bevölkerung meist hilfsbereit. Wenn jemand den Täter gesehen hatte, würde er es nicht verschweigen; auch diejenigen, die lediglich glaubten, etwas gesehen zu haben, würden sich melden. Doch da die Türen zum Einkaufszentrum beim Alarm nicht geschlossen worden waren, hatte der Mörder sich ungehindert entfernen können. Hoffentlich waren die Überwachungskameras wenigstens an eine Videoanlage angeschlossen.
Ich ging zurück zu Kaartamo, der gerade einem Fernsehreporter ein Statement gab. Er sprach im gleichen beruhigenden Ton wie mit dem Innenminister: Es handle sich nicht um einen Amokläufer, der Anschlag habe vielmehr Tero Sulonen gegolten. Doch als der Reporter nach dem Stand der Ermittlungen im Fall Lulu Nightingale fragte, schob Kaartamo mich vor, und ich musste wieder einmal erklären, dass wir zwar Fortschritte machten, bisher jedoch nur eine vorübergehende Festnahme angeordnet und bereits wieder aufgehoben hatten.
Als wir die Reporter endlich los waren, schlug ich Kaartamo vor, die Papierkörbe und Mülltonnen im Einkaufszentrum und in der unmittelbaren Umgebung untersuchen zu lassen, für den Fall, dass der Täter auf der Flucht die Waffe oder irgendwelche Kleidungsstücke weggeworfen hatte. Kaartamo wand sich, er meinte, die Aktion sei zu kostspielig, versprach aber schließlich, die Armee um Amtshilfe zu bitten. Die Soldaten des Gardebataillons würden den Müll durchwühlen.
»Auf ins Präsidium«, sagte ich zu Puupponen. Unterwegs rief ich Koivu an und bat ihn, unser Team zusammenzurufen, denn der Anschlag auf Sulonen machte den Zuhältersektor nun zum wichtigsten Ermittlungsstrang. Es war schon sechs Uhr, aber Überstunden waren in dieser Situation unvermeidlich. Im Erdgeschoss des Präsidiums war bereits Ruhe eingekehrt, nur der Diensthabende winkte uns zu. Als ich im Aufzug in den Spiegel blickte, erschrak ich: Meine Haut war blass und fleckig, der Lippenstift verwischt, die Haare standen wirr in die Höhe. Ich sah ungepflegt und ältlich aus. Mit Puupponen stand es auch nicht besser, unter den Sommersprossen war er blass, und sein Pullover roch nach Schweiß.
Puustjärvi kochte im Konferenzraum Kaffee, Puupponen und ich hatten unterwegs Gebäck und belegte Brote besorgt. Sogar Ursula war anzusehen, dass sie seit langem keinen ausgiebigen Schönheitsschlaf mehr gehalten hatte, sie gähnte ungeniert. Ihre Wimperntusche war verlaufen, unter dem Make-up schimmerten die gelblichen Blutergüsse durch.
»Allem Anschein nach hatte Lulu angesehene, wohlhabende Kunden, darunter viele, die einiges zu verlieren hätten, wenn ihre Besuche bei einem Freudenmädchen publik würden. Es handelt sich wahrhaftig nicht um arme Würstchen, die keine Frau abgekriegt haben, sondern um so genannte Stützen der Gesellschaft, die es sich leisten können, für ihre ausgefallenen Gelüste zu zahlen.«
»Hast du schon eine Ahnung, woher das Foto von Lulu und der Präsidentin stammt? Hatte Lulu einen Kunden mit einschlägigen Phantasien?«, fragte ich. Ursula lachte auf.
»Keinen blassen Schimmer! Die EDV-Jungs sagen, es ist eindeutig eine Fälschung. Am Computer kann man die tollsten Manipulationen zaubern.«
»Die EDV-Jungs? Hängt das Foto etwa
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