Wer sich nicht wehrt...
mir vorstelle, daß unsere Micky in einem Gestell hängt und durch eine Sonde ein neues Fensterputzmittel schlucken muß, dann könnte ich um mich schlagen.«
»Ich gebe Ihnen – mit Einschränkungen – recht, Herr Tenndorf.« Prof. Sänfter erhob sich. »Alles im Leben hat zwei Seiten. Das ist zwar abgedroschen, aber immer noch die Wahrheit. Kein anderer Spruch ist umfassender.« Er knöpfte seinen weißen Kittel zu und kam um den Schreibtisch herum. »Darf ich Sie einladen, mein Labor zu besichtigen?«
»Ihre Versuche an … an Tieren?«
»Ja. Am 5. Juni 1981, bei der Durchsicht des Hauptbuches für die Verteilung von Pentamidin an amerikanische Kliniken wurde man zum erstenmal stutzig. Die Zahl der Patienten, die mit diesem Antibiotikum behandelt wurden, war ungewöhnlich hoch. Das Mittel war zur Bekämpfung eines einzigen Mikroorganismus entwickelt worden: Pneumocystis carinii. Im Großen gesehen für den Menschen ungefährlich, nur bei denen, deren Abwehrkräfte geschwächt sind, kann es zur schweren Lungenentzündung kommen. Nachfragen ergaben: Die Erkrankten waren alle junge Männer, lebten in Los Angeles und waren homosexuell. Es gab für dieses Phänomen keine Erklärung, zunächst nicht … aber so beginnt die Geschichte einer Krankheit, die zu einer neuen Geißel der Menschheit werden kann: AIDS! Im Januar 1982 lagen der staatlichen amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC bereits 202 Fälle der neuen Krankheit vor, und alle 202 Patienten starben. Nun begann eine verzweifelte Forschung, ein Wettrennen mit der Zeit, denn die tödlichen Immunschwächen häuften sich dramatisch: Im August 1983 zählte man wöchentlich 60 neue Fälle … 1984 waren es pro Woche 100!«
Sänfter blieb an der Tür stehen, die Hand auf der Klinke. »Wissen Sie, wie der Stand heute ist? Allein in Deutschland gibt es jetzt rund 300.000 AIDS-Kranke. Ein großer Teil ist nicht selbst gefährdet, aber Zwischenträger des Virus HTLV-3. 300.000 lebende Zeitbomben, Herr Tenndorf – wenn hier nicht etwas geschieht, die Dunkelziffer der Infizierten kennen wir nicht, aber schon der Gedanke an die Zahl läßt uns erschauern, erlebt die Menschheit eine neue Seuche mit rasend schneller Verbreitung.« Sänfter drückte die Klinke herunter. »Auf der Isolierstation meiner Klinik leben zur Zeit drei AIDS-Kranke. Ich weiß, daß sie sterben müssen, ich weiß, daß ich sie mit unzulänglichen Mitteln behandele, ich weiß, daß ich als Arzt heute noch hilflos bin. Können Sie dieses schreckliche Gefühl nachempfinden? Aber ich will nicht hilflos sein … ich kämpfe mit gegen diese heimtückische Krankheit. Darf ich bitten?«
Sie fuhren mit dem Lift in den Keller und erreichten nach zwei Infektionsschleusen das Forschungslabor. Sie hatten sterile Kleidung angezogen … weiße Hose, weißer Kittel, alles desinfiziert. Die Schuhe waren aus Gummi, vor dem Gesicht trugen sie einen Mundschutz. Die Hände staken in Gummihandschuhen. Später, beim Hinausgehen, würden sie alles in der ersten Schleuse abgeben zur Sterilisierung.
Zwei junge Biochemiker begrüßten Sänfter und Tenndorf. Sie standen im vorderen Raum des Versuchskellers vor langen Labortischen, überwachten Kolben und Reagenzgläser, fertigten Präparate für das Elektronenmikroskop an und kontrollierten die einzelnen Experimentalreihen.
»Mein Privatlabor«, sagte Sänfter etwas undeutlich unter der Gesichtsmaske. »Ich habe bisher rund drei Millionen darin investiert. AIDS ist nur eine der Krankheiten, die hier durchgetestet werden. Die Virenforschung ist heute das wohl wichtigste Gebiet der Medizin.«
Sie betraten den zweiten Raum. Schon an der Tür blieb Tenndorf wie angewurzelt stehen. Der Raum blitzte vor Sauberkeit. Gekachelter Boden, gekachelte Wände, Klimaanlage – eine keimfreie Höhle. In bequemen Käfigen saßen oder lagen Hunde und Kaninchen, in einem großen Käfig jagten drei Äffchen herum und quietschten erfreut, als sie Sänfter erkannten. Auf einem langen Marmortisch lagen zwei kleinere Hunde … tot und offenbar gerade erst seziert. Lungen, Leber, Milz und das Gehirn waren entfernt worden.
Tenndorf rührte sich nicht von der Tür. Prof. Sänfter ging an den Affenkäfig heran, sprach mit den Äffchen und reichte ihnen aus einer Kiste eine Banane.
»Die beiden sezierten Hunde waren mit AIDS-Viren geimpft. Auch die Affen sind mit AIDS infiziert. Es hat sich die Theorie gefestigt, daß die ersten AIDS-Träger Affen waren. Also müßte man bei Forschungen an den
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