Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
Vom Netzwerk:
weil er ebenso verblüfft war.
    Auch ihn bestärkten einige, sich als Kandidat zu stellen. Ich begriff, dass diese Wahl die Entscheidung bringen sollte: entweder die Brüder oder Viktor. Franco war nur, was mein Vater als Pappkamerad bezeichnete. Steht da wie eine Ampel, die leuchtet, wenn man drückt.
    »Und?«, fragte Maren Schubert. »Jemand Drittes? Vielleicht ein Mädchen?«
    Die Klasse schwieg. Frau Schubert trug die Namen der beiden Kandidaten, Viktor und Franco, in die Tabelle ein. Sie tat es so, als sei die Handlung heilig.
    Später gingen wir, Kai, Lisa, Viktor, Ayfer, Sürel und ich, gemeinsam durch den Park nach Hause. Die Bäume schwankten. Kühler Wind. Die Wolken rannten hastig am gelben Gasballon vorbei: Die Sonne wirkte wie ein Loch, das ab- und wieder zugedeckt wird. Die Luft war lau. Spinnweben bedeckten den Holunder.
    Es hatte in der Klasse noch eine Schwierigkeit gegeben. Denn Maren Schuberts Vorstellung besagte: Klassensprecher müssen Stellvertreter haben. Und während Viktor ohne nachzudenken sofort Ayfer vorgeschlagen hatte, fiel Franco, als ihn Maren Schubert fragte, niemand ein.
    Immerhin war er aber klug genug zu wissen, dass er weder Eberhard noch Karl-Heinz vorschlagen durfte. Weil sonst – nach dem Zwischenfall mit Viktor – nur ausgesprochen wenige noch für ihn stimmen würden. Trotz der Angst, die sie inzwischen auch vor Franco hatten.
    Auf der anderen Seite traute er sich nicht die Brüder durch irgendeinen andern Namen vor den Kopf zu stoßen.
    Erst als Eberhard ihn anstieß und auf Tina deutete, schluckte Franco und murmelte: »Meine Stellvertreterin ist Tina, wenn sie will.«
    Tina hatte sich umgeschaut. Zuerst war sie erstaunt gewesen. Und danach nickte sie ein wenig spöttisch.
    Wir liefen im Park über die große Wiese und fühlten durch die weichen Sohlen, wie der feuchte Boden nachgab. Ayfer und ich trotteten nebeneinanderher. Und weil sich manchmal unsere Hände beim Gehen und Schlenkern berührten, schienen mir Wolken, Luft und Himmel plötzlich besonders nah zu sein.
    Ich konnte, ohne mich zu recken, bis an die Baumwipfel der Pappeln, die letzten gelben Blätter reichen und spürte, wie das Gras unter den elastischen Turnschuhsohlen zappelte.
    Sürel lief ein wenig abseits. Vor uns liefen Kai und Lisa. Zwischen ihnen schlurfte Viktor. Er hob, wenn er ging, niemals die Füße.
    Lisa fragte ihn, warum er sich nie gewehrt habe. Warum er nicht mal, wenn ihn jemand in der Klasse hänselte, irgendwas gesagt habe, um zu zeigen, dass er nicht bloß alles schlucken würde.
    Kai murmelte: »Und warum hast du’s ihnen ausgerechnet jetzt gegeben? Vor der Klassensprecherwahl? War das Absicht oder Zufall?«
    »Zufall«, sagte Viktor, »reiner Zufall.«
    Und ich dachte, während Ayfer wieder meinen Ellenbogen streifte: Wer das mit dem Zufall glaubt, ist ein echter Trottel.
    Dennoch wirkte Kai erleichtert, obgleich seine grauen Augen hinter den Brillengläsern blinzelten, als würde er – oder doch ein Teil von ihm – an der Antwort zweifeln. Lisa fragte: »Und warum, auch wenn’s Zufall war, hast du Karl-Heinz gerade jetzt so ’n fettes Ding versetzt? Der wirkte, als er da vorn an der Tafel stand, regelrecht geplättet. Würde mich auch gar nicht wundern«, fügte sie hinzu, »wenn er jetzt hier irgendwo wieder auf uns wartet.«
    Aber das war nicht der Fall. Wir durchquerten, ohne dass Karl-Heinz und Eberhard hinter einem Busch auftauchten, den Stadtpark, kamen am Ententeich vorbei und an der Stelle, wo die Brüder uns nach den großen Ferien aufgelauert hatten.
    Als wir das Rathaus erreichten und nachdem sich Kai und Lisa noch einmal erkundigt hatten: »Zufall oder nicht?«, lachte Viktor. Doch das Lachen klang in meinen Ohren überheblich.
    Er blieb stehen, begann zu reden, so wie damals auf dem Spielplatz, als er Tina zu erklären suchte, was es mit der Liebe auf sich hat.
    Aber weil nur Franco damals mit mir im Gebüsch gelegen hatte, und weil Kai vorzeitig gegangen war, konnte keiner wissen, wie viel Viktor schwafelte, wenn er erst in Fahrt kam.
    Diesmal sprach er von Gewalt. Wiederum ein Wort, das man vorn großschreibt, und bei Viktor war es außerdem noch doppelt oder dreifach unterstrichen.
    Während alle eifrig lauschten – bis auf Sürel, der schon ging –, fühlte ich mich durch das Reden Viktors eher abgestoßen. Ich wunderte mich auch, dass die anderen nicht schon am Tonfall spürten, wie verkehrt das war, was er zu erzählen angefangen hatte.
    Aber sie hörten

Weitere Kostenlose Bücher