Wer sich nicht wehrt
ihm aufmerksam zu. Und während ich darüber nachdachte, dass wir schon ziemlich lange nicht mehr mit beinah allen Freunden durch den Park gegangen waren, sprach Viktor davon, dass er Gewalt verabscheue – weil sie plebejisch, viel schlimmer: der Tierwelt zuzurechnen sei.
Keiner von uns wusste wirklich, was plebejisch hieß. Wir wollten auch nicht fragen, denn das hätte ausgesehen, als ob wir so blöde wie die Brüder wären. Aber jeder von uns ahnte, auch wenn sich die andern noch dagegen wehrten, dass Viktor ein Quatschkopf war, einer, der zu lange zwischen Porzellangeparden Mischmaschsaft getrunken hatte. Gewalt war nun mal einfach da. Jeder von uns wusste das. Schon immer.
Aber weil die andern Viktor gerade zum Klassensprecherkandidaten auserkoren hatten, sagten sie zu dem Blödsinn lieber nichts. Vielleicht versuchten sie sogar zu glauben, er habe Recht, nicht sie.
Man konnte Kai und Lisa, vielleicht auch Ayfer ansehen, wie sehr sie sich wünschten, dass alles wieder so sein würde wie früher: ereignislos und völlig ruhig … wie heute der Nachhauseweg quer durch den großen Stadtpark.
Kai blinzelte noch einmal hinter den Brillengläsern vor, fummelte an dem mit Leukoplast notdürftig festgeklebten Bügel, wandte sich an mich und sagte: »Na ja … ich weiß ja nicht – aber was denkst du?« Ich zuckte nur die Schultern und gab ihm wie so häufig keine Antwort.
Kai wusste, dass ich selten redete, wenn andere dabei waren. Vielleicht hatte er mich auch nur deshalb überhaupt gefragt. Außerdem hätte ich diesmal sowieso nicht geantwortet. Denn Ayfer berührte gerade wieder meine Hand. Also musste ich mich auf die Finger konzentrieren.
Das war schon anstrengend genug. Fürs Reden blieb da keine Kraft. Auch wenn Ayfer gerade meinte: »Das Rathaus steht so ruhig auf dem Platz.«
Ein sonderbarer Satz, ein Wunsch. Ich spürte ihre Fingerspitzen und kriegte eine Gänsehaut.
Ich dachte dennoch, während mich der Schauder am Nacken packte und ich die Augen schloss, an eine der Redewendungen, die meine Mutter oft benutzt. Es ging darin um Ruhe, um Ruhe vor dem Sturm.
22
Am nächsten Morgen passierte alles überraschend schnell. Ayfer und ich hatten uns getroffen, um Viktor von der Bushaltestelle am Rathausplatz abzuholen.
Heute sollte gewählt werden. In der ersten Stunde, noch vor dem Unterricht.
Wir waren spät dran, hatten es eilig. Als Viktor ausstieg, zeigte die Turmuhr knapp zehn Minuten vor acht.
Am Eingang des Parks trafen wir Sürel. Zu viert rannten wir über die aufgeweichte Wiese. Als wir den Teich mit den Enten erreichten, sahen wir die Brüder.
Sie standen gemeinsam mit Franco, der neben ihnen schmal wirkte, wenige Meter vom Ufer entfernt mitten auf dem nicht sehr breiten Weg.
Ich dachte, wie schnell das geht mit den Seiten: Ein neuer Haarschnitt – und andere Freunde. Er redet davon, dass er Spanier ist – und rasiert sich seinen Schädel glatter als die Brüder. Karl-Heinz trat einen Schritt vor und winkte einladend. Dabei zeigte er, indem er die Schulter vorreckte, auf das kloakige Wasser des Teichs.
Wir blieben stehen und zögerten. Ayfer und Sürel sahen sich an. Viktor wirkte, als sei er mit dem Kiesweg verwachsen.
Doch dann – und das war eigenartig – ging ein Ruck durch seinen Körper. Und er bewegte sich langsam auf die Brüder zu.
Als der Abstand nur noch ungefähr fünfzehn Meter betrug, folgten ihm Ayfer und Sürel erschrocken. Noch stand ihnen das Staunen im Gesicht.
Sürel rannte los, um Viktor einzuholen. Diesmal stolperte er weder, noch fiel er nach vorn und über seine eigenen Beine.
Als Viktor die Brüder und Franco erreichte, stieß Karl-Heinz einen kurzen Pfiff aus. Und während es mir, trotz meines Zitterns und obwohl meine Zähne wieder aufeinanderschlugen, mühsam gelang, den ersten Schritt nach vorn zu machen, bog ein untersetzter, nicht sehr großer weißer Hund hinter den Büschen um die Ecke und blieb, als sei er festgefroren, neben den Brüdern stehen.
Ich hatte von dem Hund gehört. Karl-Heinz hatte ihn angeschafft. Tina hatte es erwähnt: »Soll wohl ein Kampfhund werden.«
Sürel erreichte Viktor. Eberhard sagte, und man hörte den bösen Spott in seiner Stimme: »Wir werden jetzt hier warten. Ich, ihr vier und der Hund … Während Franco in die Schule geht zum Wählen. Wenn keiner von euch kommt, wird er Klassensprecher. Klingt doch logisch, oder?«
Er sah mich an, während er sprach. Und ich erkannte in Eberhards Augen die feinen Spuren der
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