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Wer sich nicht wehrt

Wer sich nicht wehrt

Titel: Wer sich nicht wehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wildenhain
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das, was mit roter Kreide an der Tafel stand: Es ist nicht richtig dass eine Türkin – Türkin war durchgestrichen worden, darüber stand: TÜRKENFOTZE – bei uns Klassensprecher ist.
    Daneben war ein Galgen mit einem Strichmännchen gemalt, das einen Rock trug, zusätzlich ein Kopftuch.
    Wir standen zu dritt nah der Tür. Einen Augenblick lang herrschte in der Klasse vollkommene Stille.
    In diesem kurzen Moment schaute ich zu Eberhard, der mich nicht ansah, sondern weiter nach vorn zur Tafel stierte. Aber ich merkte, dass er sich unsicherer fühlte als die andern, die dort saßen, ausgenommen vielleicht Tina.
    Er senkte schließlich seine Lider, und während ich ihn anschaute, fiel mir wieder ein, wie seine Augen ausgesehen hatten, wie hasserfüllt sie damals gewesen waren, als Viktor seinen Bruder vor der gesamten Klasse bloßgestellt hatte. Und ich erinnerte mich plötzlich, dass er schon mal den gleichen Ausdruck in den Augen gehabt hatte.
    Weil ich damals glaubte Eberhard zu mögen, hatte ich ihn – bevor wir zum Billardspielen gingen – gefragt, ob er oder sein Bruder nicht manchmal überlegten was gegen ihren Vater zu tun. Und er hatte mit diesem Blick, in dem die ganze Trauer lag und wie eine Folie dicht darüber der Hass, vor sich hin gestarrt und dann gezischelt: »Irgendwann mach ich ihn alle. Wenn unsere Mutter es will.« Er schien mich dabei nicht mehr wirklich neben sich wahrzunehmen, sondern sah so aus, als ob er nur noch aus kalter Wut bestünde.
    Ich betrachtete Eberhard, wie er vorn zur Tafel stierte. Ich überlegte, ob sein Verhalten das bezeichnen könnte, was man solidarisch nannte. Ich kam zu keinem Entschluss mehr. Ayfer lief weinend hinaus.
    Und während ich, ehe ich ihr hinterherlief, noch daran dachte, dass nach den großen Ferien nur zwei mit Glatze dort gesessen hatten und jetzt schon zehn, ging neben mir durch Viktor ein Ruck.
    Man konnte es spüren. Er riss sich zusammen. Und stakste, so, als habe er noch einmal alle seine Kräfte mühsam versammeln können, vor an die Tafel, nahm den Schwamm, wischte über den Satz und löschte besonders sorgfältig den Galgen.
    Dann schrieb er mit ebensolcher Kreide, wie Franco sie benutzt hatte – ich kannte Francos Schrift –, auf die noch feuchte Fläche: Vielleicht habt ihr ja Recht.
    Er zögerte kurz, sah sich um. Doch alle schwiegen. Er schrieb weiter, noch sauberer als vorher, gestochen scharf: Weil ihr eines Menschen – das Wort unterstrich er – gar nicht würdig seid.
    Die Luft im Klassenraum war heiß und trocken. Deshalb tauchte die Schrift – man konnte dabei zusehen – auf der noch feuchten Tafel rasch rot und leuchtend auf. Ich dachte: Jetzt passt das Wort zu Viktor – würdig . Und rannte Ayfer, die im Gang vor einem Fenster lehnte, hinterher.
    Diesmal gelang es mir, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Das lag wahrscheinlich an dem Kuss. Gemeinsam mit Lisa brachte ich sie nach Hause. Wir sagten: »Ruh dich erst mal aus.« Und blieben bei ihr.
    Aber am Nachmittag ging ich, weil wir noch Sport hatten und weil mich eine Ahnung dazu trieb, in die Schule zurück.
    Ich fragte Kai, ob noch was vorgefallen sei, aber er zuckte bloß die Schultern und sah ein bisschen ratlos aus. Wie jeder hatte er damit gerechnet, dass die Brüder oder Franco etwas gegen Viktor unternehmen würden. Doch alle Kahlgeschorenen hatten sich gleichgültig verhalten. Sie sahen Viktor weder an, noch taten sie ihm etwas.
    Kai murmelte: »Aber es herrscht so eine Ruhe, als würden alle abwarten, als ob sich irgendwas zusammenbraut.«
    »Und wie hat sich Viktor verhalten?«
    »Sonderbar. Eigenartig. Irgendwie, als ob er sein Urteil kennen würde – und sich damit schon abgefunden hat.«
    »Und warum geht er nicht nach Hause?«
    Kai zögerte. Man sah, wie er begann zu grübeln. Dann zuckte er die Schultern. »Weil er sich abgefunden hat.«

30
    Wir zogen uns zum Sport um. Alle, auch die Brüder, bewegten sich sehr vorsichtig. Niemand schaute dem andern in die Augen. Keiner sprach.
    Jeder tat nur, was er immer tat, wenn wir nachmittags noch Sport hatten.
    Viktor hielt sich abseits, von allen, auch von mir und Kai. Wenn ihm Karl-Heinz oder Franco zu nahe kamen – und zu nahe hieß näher als zwei Meter –, begann er am ganzen Körper zu zittern. Aber er hielt durch.
    Er hätte zu unserem Sportlehrer sagen können: »Mir ist schlecht.« Der Lehrer hätte ihn angeschaut und Viktor, der noch bleicher wirkte als sonst, nach Hause gehen lassen.
    Aber selbst

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