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Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Prokop
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zwei Stunden die große Show »Wahl der ’Miss des Monats‹« direkt aus dem Festsaal des »Nebraska« übertragen wurde. Timothy sah auf die Uhr. Er hatte noch Zeit, sich einen Whisky einzugießen, er hatte sogar noch genug Zeit, die »White Lady«-Flasche wieder wegzustellen und einen »House of Lords« zu holen.
    Das Video übertrug gerade die Parade der zweiten Auswahlrunde. Sechzehn ausgesucht schöne, nackte Mädchen stolzierten in hochhackigen, fellbesetzten Pantoffeln über den Laufsteg. Plötzlich wurde es irgendwo unruhig, dann sah man im Bildhintergrund einen Schatten auf die Bühne springen, ein Schrei gellte auf, pflanzte sich durch den Saal fort, die Musik verstummte, nur ein Traumaphon klapperte ein paar Takte nach, die Kamera schwenkte auf die Bühne, erfaßte Samuel, der nackt auf der Bühne stand, die vier Arme ausbreitete und mit krächzender, sich überschlagender Stimme in den Saal schrie.
    »Ich bringe – die Botschaft – ich – Gemeinde – der Herr – Fort Baxter –«
    Weiter kam er nicht. Er griff mit allen vieren an den Hals, würgte, lief rot, dann blau an, stürzte zu Boden, zwei Männer sprangen hinzu, warfen einen Mantel über ihn, schleppten ihn davon. Das Bild setzte aus. Eine Schrift meldete »Technische Störung«. Dann kündigte die Ansagerin freundlich lächelnd an, es ginge sogleich mit der Übertragung des dritten Wahlgangs weiter. Timothy schaltete ab. Er dirigierte Samuels Porträt über den Kopf der Leonardo-Skizze, so daß es aussah, als segne Samuel ihn von der Wand, überlebensgroß. Timothy erhob das Glas.
    »Auf dich, Samuel«, sagte er leise. »Dir zum Gedenken, Bruder.«
    12.
    Es klingelte. Timothy schreckte hoch. Die Klingel schlug ein zweites Mal an, verstummte nicht mehr. Timothy schlurfte hinaus, öffnete. Vor der Tür stand die Bachstelze.
    »Habe ich Sie überrascht, Tiny?«
    Timothy brachte keinen Ton heraus. Nimm dich zusammen, befahl er sich. Sie kann nichts wissen. Und sie ist allein gekommen. Dann wurde ihm siedeheiß. Im Zimmer stand noch immer die Leonardo-Skizze mit Samuels Kopf an der Wand.
    »Ich wollte einen Whisky bei Ihnen trinken, Tiny. Wobei habe ich Sie gestört? Gestehen Sie!«
    Sie drängte an ihm vorbei; in der Tür des Tagesraumes blieb sie wie vom Blitz getroffen stehen.
    »Ist das von Ihnen, Tiny?«
    »Ja und nein. Das Arrangement ist von mir, die Skizze von einem gewissen Leonardo da Vinci. Keine Angst, er ist seit über sechshundert Jahren tot. Das Foto stammt von Ihnen.«
    »Und was bedeutet das?« fragte sie mißtrauisch.
    »Ich dachte, es würde mich inspirieren«, erklärte Timothy. »So mache ich das immer, wenn ich nicht weiter weiß, Debby. Ich verschaffe mir einen optischen Anhaltspunkt, höre Musik und trinke; ich hatte so schon die besten Einfälle.«
    Die Bachstelze musterte ihn skeptisch, ging in das Schlafzimmer, den Arbeitsraum, sah nach, ob etwas in Napoleons Geber lag, faßte die Außenhaut an mehreren Stellen an, um zu prüfen, ob Napoleon erhitzt war, inspizierte dann das Bad, die Küche, sogar die Toilette und die Kammern, und überall öffnete sie die Schränke und Schubladen. Als Timothy sie fragte, was das solle, schob sie ihn einfach beiseite.
    »War er bei Ihnen?« fragte sie scharf, nachdem sie ihren Rundgang beendet hatte.
    »Wer?«
    »Baxter natürlich! Wer sonst?«
    »Natürlich nicht. Wie kommen Sie darauf?«
    »Wissen Sie, was geschehen ist?«
    »Ich habe die Übertragung gesehen.«
    »Ganz zufällig, was?«
    »Nicht zufällig. Ich wollte die Wahl der ’Miss des Monats‹ sehen.«
    »Sie, Tiny?« Die Bachstelze hielt sich die Seiten vor Lachen. Dann wurde sie blitzartig ernst. »Ich hätte nie geglaubt, daß Sie sich für nackte Mädchen interessieren«, sagte sie lauernd. »Warum nicht? Weil ich ein Zwerg bin? Weil ich nie eine von diesen langbeinigen Superfrauen bekommen kann? Habe ich deshalb nicht das Recht, mir die Show anzusehen? Habe ich etwa keine Bedürfnisse? Vielleicht bin ich gerade deshalb so empfänglich für alles Schöne und reagiere allergisch auf alles Häßliche!«
    Die Bachstelze ließ sich in einen Sessel fallen und winkte unmißverständlich nach der Whiskyflasche. Timothy erwischte ein feuchtes Glas. Er tat schnell so, als sei er in Gedanken versunken, und polierte dabei das Glas.
    »Ich wollte Sie nicht kränken«, sagte die Bachstelze, »aber verraten Sie mir eines: Wieso ist Baxter gerade ins ’Nebraska‹ gekommen? Wieso platzt er ausgerechnet in die beliebteste Show der

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