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Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition)

Titel: Wer stiehlt schon Unterschenkel: und andere unglaubliche Kriminalgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Prokop
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konnte ebensogut Staunen wie Belustigung oder Ärger ausdrücken.
    »Ich sage Ihnen doch, es geht nicht«, flüsterte der Barkeeper. Timothy ließ seinen Hocker herumschnellen, doch hinter ihm stand niemand, die »Stardust«-Bar war nahezu leer. Nur an einem der nördlichen Fenstertische saß ein Pärchen, es hätte auch in eine Kellerbar gehen können; die jungen Leute schenkten dem Ausblick, der als Begründung für die schwindelerregend hohen Preise diente, keine Beachtung. Statt das Farben- und Formenspiel des dunstigen Wattemeers über Chicago zu bewundern, aus dem die Skyscraper wie metallene Stalagmiten herausragten, blickten sie sich in die Augen.
    »Daß ich immer wieder darauf hereinfalle«, sagte Timothy ärgerlich. »Warum flüstern Sie, Melvin?« Er sprach so laut, daß die Liebesleute hochschreckten.
    Der Barkeeper hob die Schultern. »Berufskrankheit. Die meisten Gäste mögen es nicht, wenn man laut spricht.« Er sagte es um eine Nuance kräftiger, verfiel aber gleich wieder in die alte Stimmlage.
    So gab es ein seltsames Zwiegespräch: auf der einen Seite des breiten Tresen ein Mann mit den Schultern eines Karate-Champions, der kaum hörbar krächzte, auf der anderen Seite der schmächtige, winzige Timothy, der seinen Baß dröhnen ließ. Wäre es ein Video gewesen, man hätte angenommen, daß einer jener avantgardistischen Regisseure seine Darsteller mit vertauschten Stimmen synchronisiert hätte.
    Timothy legte erneut Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger der rechten Hand auf die Platte, winkelte den kleinen Finger ab und drückte ihn fest gegen die Kante, dann ließ er den Zeigefinger hochwippen, den Mittelfinger, der Ringfinger rührte sich nicht.
    »Es ist ein alter Trick«, flüsterte Melvin, »ich habe ihn von meinem Vater und der von Großvater – seit Generationen wird das bei uns von einem zum anderen weitergegeben, immer am zehnten Geburtstag.«
    »Warum?«
    »Keine Ahnung. Wer weiß, was das früher im alten Europa zu bedeuten hatte. Vielleicht so eine Parabel, wie die Geschichte von den Stäben, die man einzeln zerbrechen kann, nicht aber gebündelt? Daß man nie frei ist, wenn man sich gegen etwas stemmt?«
    »Nanu, Melvin, philosophische Ambitionen?«
    »Ich habe oft darüber nachgedacht. Früher hat es einen Spruch dazu gegeben, aber schon mein Vater kannte ihn nicht mehr.«
    Timothy ließ noch einmal die Finger wippen: eins, zwei, nichts.
    »Seien Sie nicht halsstarrig, Tiny. Ich weiß nicht, warum, aber niemand schafft es.«
    »Weil man den musculus extensor indicis proprius, den Strecker des Ringfingers, blockiert, wenn man den kleinen Finger gegen die Kante drückt.«
    Der Barkeeper sah Timothy mit offenem Mund an. »Warum, zum Teufel, versuchen Sie es immer wieder, wenn Sie das so genau wissen?«
    »Und niemand erinnert sich an den Spruch?«
    »Niemand.« Der Barkeeper lehnte sich über den Tresen. »Sie sind doch ein bedeutender Mann, Tiny. Können Sie uns nicht eine Lizenz beschaffen? Mary und ich möchten so gerne ein Kind.«
    »Aber Melvin, wie sollte ich Ihnen da helfen?«
    »Warum, verdammt noch mal«, krächzte der Barkeeper, »dürfen wir nicht ein Kind haben, wenn wir es wollen? Warum dürfen Sie kein Kind haben, Tiny, ein Mann von Ihrer Intelligenz !«
    »Ich?« Timothy schüttelte sich vor Lachen. Die goldenen Spitzen seiner exakt auf die Farbe des Anzuges abgestimmten blauen Haare sprühten wie ein Funkenregen. Das Liebespärchen starrte wütend zur Bar.
    »Wer sollte einem Zwerg eine Lizenz geben! Ich muß ja froh sein, daß ich das Licht unserer schönen, braven Welt schon vor fünfzig Jahren erblickte; heutzutage hätte man mich doch gleich nach der Geburt annulliert. Ich weiche weit mehr als zehn Prozent von der Norm ab.« Er kicherte. »Und wie ich von der Norm abweiche!«
    »Ich weiß es«, sagte der Barkeeper ernst. »Und ich weiß es zu schätzen.« Er holte die Flasche »Old Finch« aus dem Kühlfach und goß ein. »Ihr Whisky«, sagte er, dann wies er zur Westfront, »und Ihr Sonnenuntergang.«
    Timothy nahm das Glas in beide Hände und schlürfte genießerisch den »Old Finch«, während er zusah, wie die Sonne als tiefrote Scheibe in die ockerfarbenen Wolken tauchte und mit ihrem Schein die Skyscraper in blutige Nadeln verwandelte.
    Erst als der letzte Lichtschimmer erlosch, drehte er sich wieder zum Tresen um.
    »Ein erstaunlich ruhiger Abend«, sagte er. »Gibt wohl was Besonderes im Video?«
    »Die Präsidentenwahl.« Der Barkeeper hielt ihm einen

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