Wer stirbt Palmen ... 2: Der Sohn
gestanden hatte, brach der Boden auseinander, und eine breite Spalte entstand. Die Felsbarriere knickte ein …
Die Welt geht unter, dachte Paul. Mutter, du hattest recht. Wir werden vernichtet. Warte Mutter … ich folge dir … unter mir bricht die Insel zusammen.
Irgend etwas mußte Paul Bäcker getroffen haben, ein Stein, ein Ast, ein herumwirbelndes Stück seiner zerstörten Welt … er erwachte aus einer tiefen Ohnmacht mit großen Schmerzen, die seinen Kopf wie eiserne Klammern überzogen.
Aber er lebte. Das erschien ihm so unbegreiflich, daß er zunächst auf der Erde liegenblieb und voller Staunen die Wahrnehmungen seiner Sinne erprobte: Er atmete wirklich. Er roch den Duft der Erde. Er hörte das Donnern des Meeres. Er fühlte den Wind auf seiner Haut. Er lebte …
Die Sonne schien wieder. Der Sturm war einem lauen Wind gewichen, nur das Meer grollte noch. Aber es war zurückgewichen und hatte die Böschung wieder freigegeben. Nur die Lagune war weggerissen, und die Felsenbarriere war an vier Stellen durchbrochen worden. Die Insel war kahl – das Bambusdickicht und die Palmenwälder waren verschwunden. Ein Fleck Erde, von einer Riesenhand kahlrasiert.
Paul Bäcker stemmte sich mühsam auf die Knie und sah sich um, schwankte und umklammerte seinen schmerzenden Kopf.
Die Welt hatte sich verändert. Mitten auf der Insel war eine Schlucht entstanden. Die Stelle, wo das Haus gestanden hatte, war nach oben gedrückt worden. Es gab die Bucht mit der Totenstätte nicht mehr, kein einziger Vogel schien überlebt zu haben. Alles Leben war ausgelöscht worden.
»Warum lebe ich noch?« schrie Paul zum Meer hinüber. Er kroch bis zum Rand der Böschung, starrte hinunter und sah dann im Geiste wieder die große, auf den Wellen tanzende Palme, an die er seine Mutter gebunden hatte, um sie vor dem Meer und dem Sturm zu retten.
»Du Mörder!« brüllte Paul hinunter zum Meer. »Du Mörder! Ich will dich hassen wie mein Vater! Ich werde gegen dich kämpfen, und es wird keine Stunde geben, in der ich dich nicht verfluche, du verdammtes Meer!«
Er lag noch eine Zeitlang herum, völlig erschöpft, mit brummendem Schädel, und dachte: Was soll das alles? Ich lebe, um mein Sterben in allen Einzelheiten zu verfolgen. Ein paar Tage kann man durchhalten, dann habt ihr es geschafft, Sonne, Meer und Wind.
Kein Baum ist mehr da, keine Wurzel, keine Blume, kein Vogel. Nur noch Sand. Das ist die Rache des Meeres. Weil es vor zwanzig Jahren meinen Vater nicht bekommen hatte, holt es jetzt mich, den Sohn.
Der Gedanke erregte ihn nicht, flößte ihm keine Angst ein. Nach allem, was er erlebt hatte, dachte er an den Tod wie an einen stillen, sanften Freund.
Aber da war noch eine Erinnerung: Als Werner Bäcker vor zwanzig Jahren an dieser Insel angeschwemmt worden war, hatte er ein zerschlagenes Bein und außer seinen beiden Händen nichts als den unbesiegbaren Willen zu überleben.
Paul Bäcker wälzte sich auf den Rücken und starrte in den weiten, blauen, wolkenlosen Himmel. »Nein!« sagte er laut. »Ich bin sein Sohn! Versteht ihr das? Ich weiß nicht, ob sich alles wiederholt, aber ich weiß bestimmt, daß ihr mich nicht kleinkriegt. Laßt mich noch eine Stunde liegen … aber wenn ich dann aufstehe, bleibe ich auch stehen, das verspreche ich euch.«
Er legte die Hände über die Augen, um sich vor der grellen Sonne zu schützen, und dachte darüber nach, was er als erstes tun müßte. Dem Stand der Sonne nach mußte es bald Abend sein … er würde also erst einmal die Insel abgehen, ihre Veränderungen untersuchen, für Wasser und Essen sorgen und zusammensuchen, was von dem alten Viktoria-Eiland übriggeblieben war.
Wenn auch das Haus zerstört war und nichts mehr, nicht einmal ein Pfahl, daran erinnerte … der Keller mußte geblieben sein, und im Keller lagen alte Töpfe, Tonnen, Werkzeuge, Kisten, Säcke … Abfälle eines schon ziemlich luxuriös gewordenen Lebens, die jetzt wieder zur Grundlage eines neuen Lebens wurden. Aus jeder Ruine wächst einmal Gras … das hatte Werner Bäcker oft gesagt. Wenn wir so zäh und genügsam sind wie Gras, wer kann da unseren Lebenswillen noch aufhalten?
Paul Bäcker erhob sich, als sich die Hitze merklich in die abendliche Kühle auflöste. Das Meer hatte sich noch mehr beruhigt … es war Ebbe, der Strand reichte weiter ins Land hinein als sonst. Im Sand lagen dicke Krebse, einige Schildkröten und ein paar Riesenkrabben.
»Nein!« sagte Paul laut. »Nein, du Mistmeer, ich
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