Wer stirbt Palmen ... 2: Der Sohn
lasse mich nicht bestechen. Und wenn du mir einen Tisch deckst mit allen Köstlichkeiten … ich hasse dich auf ewig!«
Er wandte sich ab, blickte nach Osten und erstarrte.
Ein Wunder hatte sich ereignet. Er verlor vor dem, was er sah, die Sprache.
Da, wo Viktoria-Eiland früher wie ein Schildkrötenpanzer im Meer gelegen hatte, buchtenlos, sanft abfallend, war die Insel nun wie ein abgerissenes Brot, zernagt, als hätten sich Riesenzähne hineingegraben.
Dahinter aber, nur durch eine schmale Wasserstraße getrennt, lag eine neue Insel im Meer … weißglänzend, felsig, mit einer weiten Bucht wie ein Hafen und höher als Viktoria-Eiland. Eine Insel in der Form eines Hufeisens, von urweltlichen Kräften aus der Meerestiefe ans Licht gehoben. Ein Stück Land mit einem Sandstrand, mit bizarren Korallenbänken, trocken und blankgeputzt, als habe Gott ein besonders schönes Sandkorn gewaschen und auf ein Tuch aus blauer Seide gelegt.
Fassungslos stand Paul Bäcker vor diesem Wunder. Und dann begriff er: Ein Seebeben hatte ihm die Mutter genommen und ihm dafür eine neue Insel geschenkt, es hatte Viktoria-Eiland vernichtet und gleichzeitig Neuland geschaffen. Der Taifun hatte ihn zum Sterben verurteilt, aber gleichzeitig seinen Lebensraum erweitert. Die Natur folterte ihn, indem sie ihm zeigte, wie ungeheuerlich eine Geburt sein kann.
»Ihr irrt euch!« schrie Paul Bäcker plötzlich. Er machte den ersten Schritt vorwärts über sein vernichtetes Land, aber schon der zweite und der dritte Schritt waren die Eroberung des Neuen. »Ich gehe nicht mehr in die Knie! Du da drüben, du Insel … bevor ich dich betrete, sollst du schon deinen Namen haben. Ich taufe dich ›Anne-Eiland‹! So, wie mein Vater seiner Insel den Namen seiner toten Frau gegeben hat, gebe ich dir den Namen meiner toten Mutter. Sieh mich an, Insel … ich habe keine Angst. Und wenn ich Angst hätte, ich fräße sie auf und würde mich von ihr ernähren!«
Er ging über das völlig zerklüftete Viktoria-Eiland und stellte fest, daß die entfesselte Natur doch nicht stark genug gewesen war, alles zu vernichten. Baumstümpfe waren übriggeblieben, einige Bambusstangen. Ansätze von Büschen, einige Gemüsepflanzen in den umgewühlten Beeten … einsame Überlebende wie der Mensch auf dieser Insel.
»Das ist genug!« sagte Paul Bäcker und hob die Faust gegen das Meer. »In einem Jahr werden hier wieder Blumen blühen, neue Palmen wachsen, wird der Bambus sprießen, werden neue Vogelscharen nisten. Schildkröten werden hier ihre Eier vergraben und Fischschwärme im seichten Wasser spielen. Vor allem eins, Meer, sollst du wissen: Ich bleibe hier! Wir Bäckers sind ein verdammt sturer Menschenschlag.«
Im Keller des Hauses fand Paul genug Werkzeug und alte Gefäße. Noch in der Nacht machte er sich daran, aus leeren Benzintonnen ein kleines Floß zu bauen. Er band sie aneinander, legte zwei Kistenbretter darüber und ließ das Floß beim Morgengrauen in den kleinen Meeresarm gleiten. Mit zusammengeflochtenen Palmblättern, die er überall am Ufer fand, paddelte er hinüber zu der neuen Insel. Er lag auf den Benzintonnen, balancierte das Gleichgewicht aus und hoffte während der mühsamen Überfahrt, daß gerade jetzt, in der Dämmerung, keine Haie auftauchten.
Er brauchte fast eine halbe Stunde, um über die schmale Wasserstraße zu kommen. Eine starke Strömung trieb ihn weitab, und er landete am äußersten Ende der weiten Bucht zwischen zwei bizarren Korallenbänken.
Als er das Neuland betrat, war ihm durchaus nicht feierlich zumute. Er kletterte über die Riffe, sprang in den Sand, der einmal Meeresboden gewesen war und sank bis zu den Knöcheln ein. Dann stapfte er den sanft ansteigenden Hügel hinauf und wunderte sich, wie uralt diese Insel aussah, obgleich sie gerade einen Tag alt war.
Als er die höchste Stelle erreicht hatte und hinüberblickte nach Viktoria-Eiland, krampfte sich sein Herz zusammen. Das Ausmaß der Zerstörung war erst von hier zu übersehen. Die Natur hatte Viktoria-Eiland zerrissen, um aus diesem Material Anne-Eiland zu schaffen.
»Du gehörst mir!« sagte Paul Bäcker mit der gleichen Entschlossenheit, wie sein Vater vor zwanzig Jahren seine unbekannte Insel in Besitz genommen hatte. »Ich gehe dich jetzt ab, und jeder Schritt heißt: Kampf! Kampf! Kampf! Ihr habt euch alle verrechnet – Meer, Sonne und Wind!«
In der Mitte der neuen Insel, zwischen zwei merkwürdigen, säulenähnlichen Felsgebilden, fand Paul das
Weitere Kostenlose Bücher