Wer Wind sät
nicht â lag noch immer schlafend auf der Couch, die Knie angezogen, den linken Arm unter den Kopf geschoben. Der Zettel, den er ihr heute Mittag hingelegt hatte, lag noch genau an derselben Stelle. Er betrachtete sie von der Tür aus. Das T-Shirt war ein Stück hochgerutscht. Der Anblick ihrer zarten, alabasterweiÃen Haut erfüllte ihn jäh mit Zärtlichkeit.
Diese Frau konnte doch keine kaltblütige Mörderin sein! Wahrscheinlich sollten alle Behauptungen über sie einzig und allein dazu dienen, sie unglaubwürdig zu machen. Sie kannte ein gefährliches Geheimnis, das groÃen Schaden anrichten konnte.
Annika schien seine Anwesenheit zu spüren. Sie regte sich, dann schlug sie die Augen auf und blinzelte in das helle Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel. Ihr schlaftrunkener Blick wanderte zu ihm, ein bezauberndes Lächeln glitt über ihr Gesicht.
»Hallo«, flüsterte sie.
»Hallo«, erwiderte er ernst. »Ich muss mit dir reden.«
Sie hörte auf zu lächeln und setzte sich aufrecht hin. Mit beiden Händen glättete sie ihr zerzaustes Haar. Der Rand des Sofakissens hatte einen Abdruck auf ihrer vom Schlaf geröteten Wange hinterlassen. Er durchquerte den Raum und nahm neben ihr Platz.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie alarmiert.
Wie sollte er anfangen? Störch und Herröder waren Kollegen, an deren Worten er unter anderen Umständen nicht gezweifelt hätte. Warum betrachtete er sie auf einmal als Gegner, ja mehr noch: als Feinde? War er dabei, einen Fehler zu machen?
Annikas grüne Augen waren abwartend auf ihn gerichtet, sie hatte die Hände zwischen ihre Knie geklemmt und drückte den Rücken durch.
»Heute Morgen war Dirk Eisenhut auf dem Kommissariat«, sagte er schlieÃlich.
Sie zuckte erschrocken zusammen.
»Bei ihm waren zwei Leute vom BKA . Sie sagten, sie hätten erfahren, dass du dich hier in der Gegend aufhältst, und fragten, ob ich wüsste, wo du bist. Ich habe gelogen und gesagt, ich würde dich nicht kennen.«
Erleichterung flackerte über ihr Gesicht, erlosch aber sofort wieder, als er weitersprach.
»Sie haben behauptet, du â¦Â« Er brach ab. Die Vorwürfe waren zu ungeheuerlich. Und er fürchtete sich vor ihrer Reaktion. Was sollte er tun, wenn sie ihn jetzt anlog? Bodenstein gab sich einen Ruck. »Man wirft dir vor, zwei Männer ermordet zu haben. Einen in Zürich, den anderen in Berlin.«
Stille. Nur das schaumige Rauschen des Windes in den Baumkronen drang durch das schräg gestellte Fenster. Bodenstein beobachtete, wie sich Fassungslosigkeit und Entsetzen auf Annikas Gesicht breitmachten, und wagte nicht zu atmen.
»Aber ⦠aber ⦠das ⦠das kann doch nicht sein«, stammelte sie. » Ich soll jemanden ⦠ermordet haben? Ich hab in meinem ganzen Leben noch keiner Fliege etwas zuleide getan!«
»Cieran OâSullivan wurde in einem Berliner Hotelzimmer getötet. Sie sagten, man hätte dich bei der Leiche erwischt, du hättest aber fliehen können.«
Annika starrte ihn an.
»O mein Gott.« Sie schluckte krampfhaft, sprang auf und legte die Hände über Mund und Nase. Ihr Blick irrte ziellos durch den Raum. Bodenstein stand ebenfalls auf, legte seine Hände auf ihre Schultern.
»Annika, bitte«, bat er eindringlich. »Ich weià nicht mehr, was ich glauben soll. Sag mir die Wahrheit! Hast du OâSullivan getötet?«
Sie starrte ihn an, totenbleich im Gesicht.
»GroÃer Gott, nein!«, stieà sie hervor. »Warum hätte ich Cieran etwas antun sollen? Ich habe erst Tage später aus dem Internet erfahren, dass er tot ist. Er sei erschossen worden, stand da, aber nicht, wo man ihn gefunden hat.« Sie sah die Zweifel in seinem Gesicht, griff nach ihm und umklammerte seinen Unterarm. »Oliver, ich schwöre dir, ich habe noch nie eine Waffe in der Hand gehabt!«
Bodenstein hatte bei Ermittlungen selbst schon einige Male entweder gar keine oder gezielte Falschmeldungen lanciert, um zu verhindern, dass Details publik wurden, die nur der Täter kennen konnte. Hatte Störch das auch getan? Ein Schuss war psychologisch betrachtet etwas völlig anderes als über vierzig Messerstiche.
»Ich weiÃ, dass Cieran Angst um sein Leben hatte«, sprach Annika mit gepresster Stimme weiter. »Wir hatten Heiligabend morgens noch telefoniert, und da sagte er
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