Wer Wind sät
ihn noch nie erlebt. Normalerweise verhielt er sich distanziert, manchmal geradezu brüsk.
»Kommen Sie, Anna, lassen Sie uns in mein Büro gehen, da ist es gemütlicher.«
Anna! Noch nie hatte er sie beim Vornamen genannt! Was war nur los mit ihm? Weshalb kam er um diese Uhrzeit zu ihr ins Institut?
»Okay.« Sie lächelte. »Ich brauche noch zehn Minuten.«
»Beeilen Sie sich. Sonst wird der Champagner warm.« Er zwinkerte ihr zu und verschwand. Ihr Herz pochte aufgeregt. In dem knappen Jahr, das sie nun für und mit Professor Eisenhut arbeitete, war sie oft mit ihm allein gewesen, aber nie an einem Abend und ganz sicher nicht, um mit ihm Champagner zu trinken. Sie zog ihren Laborkittel aus, löste ihren praktischen Pferdeschwanz und fuhr sich kurz durch die Haare. Der Aufzug brachte sie in Sekunden hoch in den siebten Stock, wo die Gummisohlen ihrer flachen Schuhe auf dem ParkettfuÃboden quietschten. Unsicher betrat sie sein Büro und blieb schüchtern stehen. Zwar war sie schon oft hier oben gewesen, aber so richtig wohl fühlte sie sich nur unten in den Labors.
»Kommen Sie näher!«, rief er. Er hatte seinen Mantel, sein Jackett und seine Krawatte nachlässig über eine Stuhllehne geworfen, zwei Champagnergläser aus dem Schrank geholt und öffnete nun die Flasche, wobei er ein Auge zukniff und das Gesicht verzog.
»Auf was trinken wir denn?«, fragte sie. Ihr Herz schlug so heftig gegen ihre Rippen, dass er es hätte hören müssen, wenn der Wind nicht so laut geheult hätte.
»Darauf, dass unser Institut ab dem 1 . Januar offizielles Beratungsorgan der Bundesregierung in Klimafragen sein wird.« Mit einem jungenhaften Lächeln reichte er ihr den Champagner, der so kalt war, dass das Glas von auÃen leicht beschlug. »Und das wollte ich mit meiner besten Mitarbeiterin feiern.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
»O mein Gott!«, flüsterte sie. »Sie waren heute in Berlin, und ich habâs total vergessen. Herzlichen Glückwunsch!«
»Danke!« Er grinste breit und zufrieden, stieà mit seinem Glas sachte gegen ihres und leerte es mit einem Schluck. »Den haben wir uns jetzt wirklich verdient.«
Sie nippte an ihrem Glas. Er war extra ins Institut gekommen, um mit ihr anzustoÃen! Ihre Finger zitterten vor Aufregung, sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Das vom Wind zerzauste Haar, die glänzenden Augen, dieser Mund, von dem sie träumte, seitdem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Sie musste schlucken und spürte, wie sie rot wurde. Noch nie war sie so verliebt gewesen, aber ganz davon abgesehen bewunderte sie ihren Chef für seine Begeisterung, seine Ãberzeugung, das Richtige zu tun. Sie bewunderte sein immenses Wissen, seinen scharfen Verstand, ja sogar seine Arroganz.
Ganz unvermittelt ballte er triumphierend die Faust und lachte. Dann stellte er das Glas auf den Tisch, kam näher und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sein Blick bohrte sich in ihren.
»Wir haben es geschafft, Anna!«, flüsterte er rau und hörte auf zu lächeln. »Verstehst du? Ab heute heiÃt es: Sky is the limit!«
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. Sie sahen sich stumm an, dann zuckte es um seine Lippen. Offenbar hatte er die Antwort auf seine unausgesprochene Frage in ihrem Gesicht gelesen, denn er zog sie fest in seine Arme und küsste sie mit einer Leidenschaft, die ihren Körper von den Haarspitzen bis zu den Zehen in flüssiges Feuer tauchte.
Die Durchsage kam in der dritten Stunde, zu der Mark gerade noch rechtzeitig erschienen war. Er sollte zum Direktor kommen! Sein Biolehrer warf ihm einen resignierten Blick zu und nickte auffordernd mit dem Kopf Richtung Tür. Niemand reagierte, als er aufstand und hinausging, denn es war schon das vierte oder fünfte Mal in diesem Halbjahr, dass Mark zu Dr. Sturmfels zitiert wurde. Anfangs hatten seine Klassenkameraden noch getuschelt und gekichert, die SpieÃerfraktion hatte ihn mit spöttischen Blicken bedacht, aber mittlerweile war es nichts Besonderes mehr. Mark verlieà das Klassenzimmer und schlenderte ohne Eile die leeren Flure entlang. Es gab Schüler, die den Direktor in neun Jahren nur aus der Ferne kannten, er hingegen konnte allmählich mit ihm Brüderschaft trinken, so oft wie er vor dessen Schreibtisch saÃ. Mark betrat das Sekretariat, die Sekretärin winkte ihn stumm durch. Er
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