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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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beschimpft?
    »Dummes Gequatsche, es sind ja eure Regeln! Dass man sich abzumelden hat, wenn man die Insel verlassen will, ist noch in der Zeit der Schülerselbstverwaltung beschlossen worden.«
    In den guten alten Zeiten, als Entscheidungen auf Scharfenberg streng demokratisch getroffen wurden: Jeder hatte eine Stimme, Schüler wie Lehrer, außer wenn es um die Verleihung dieses Stimmrechts an Neuzugänge ging. Über die Aufnahme eines neuen Mitschülers bestimmten die Schüler allein. Ein Neuer musste am Ende des ersten Schuljahres zwei Drittel der Schülerstimmen für sich gewinnen, in freier und geheimer Wahl, oder er musste die Schule wieder verlassen: Und wie ist es dann möglich, dass es hier neuerdings Nazis gibt?
    Sieben Tageszeitungen aller politischen Richtungen werden auf Scharfenberg ausgelegt. Es gibt einen Presseclub, der den Inhalt dieser Zeitungen für die Lesefaulen zusammenfasst. Es gibt Mitglieder aller Parteien, aber immer waren Kommunisten und Sozialdemokraten weit in der Überzahl. Die meisten Schüler stammen schließlich aus Arbeiterfamilien. Scharfenberg ist erschwinglich. Das Schulgeld ist am Einkommen der Eltern ausgerichtet, und einen großen Teil ihres Lebensunterhalts erwirtschaften die Schüler selbst: Zur Farm gehören fünfzehn Morgen Ackerland, zwanzig Morgen Weide, vier Morgen Mähwiesen, Schweine, Pferde, Kühe, Kaninchen. Man kann in der Landwirtschaft mitarbeiten, in der Tischlerei, in der Schlosserei, in der Gärtnerei oder der Gruppe Allzeitbereit, die zum Beispiel die Klos sauber hält. Es gibt den Läutenant,der morgens früh um sechs alle mit der Glocke zum Morgenlauf rund um die Insel weckt. Es gibt einen Mahlzeitenchef, der beim Ausmisten der Ställe, dem Einbringen des Heus zur Kaffeepause mit dem Korb voller Schmalzstullen erscheint.
    Natürlich wird alle Arbeit freiwillig geleistet. Arbeit ist schließlich keine Strafe. Eine Strafe ist es, nicht mehr arbeiten zu dürfen, von allen Aufgaben, von jeder Mitwirkung befreit zu sein. Was ist Erziehung? Einsicht in das Notwendige. Auf Scharfenberg gibt es keine Noten, keine fest abgezirkelten 45-Minuten-Stunden. Es gibt Waldläufe und Schwimmfeste, aber keine Turnstunden. Bei der Feldbestellung, der Wartung der Maschinen in den Werkstätten, den Fettuntersuchungen der Milch, der Anlage eines Gewächshauses, den meteorologischen Messungen, deren Ergebnisse täglich an den Zentralen Wetterdienst weitergeleitet werden, der Bekämpfung der Wasserratten auf der Kükenfarm gehen Unterricht und Arbeit ineinander über. Für die jährlichen Theateraufführungen kommen Schauspiellehrer nach Scharfenberg, die die Proben leiten und die Schüler in der Kunst des Vortrags und der freien Rede unterrichten.
    »Ach hört doch auf. So ist es ja gar nicht mehr. Es geht hier doch alles kaputt.«
    Das ruft Natze von der Kükenfarm. Die Kükenfarm wird längst ganz von der Schülerselbstverwaltung geleitet. Die beiden Jungen, die dort wohnen und arbeiten, tragen große Verantwortung: In ihren Händen liegt die Aufzucht der Wellensittiche, der Enten-, Gänse- und Hühnerküken und die Versorgung der Seidenraupen. Sie bauen Brutkästen und Volieren, sie schleppen die Maulbeerbaumblätter für die Raupen von der Anlegestelle herauf, sie machen ihre Schulaufgaben zwischen Säcken voll Tierfutter und Werkzeugkisten. Sie schlafen auch auf der Kükenfarm, in einem Raum im Dach.
    »Das ist Verantwortung. Unsere Verantwortung für die Tiere. Keiner hat gesagt, wir müssten das machen. Wir haben uns freiwillig gemeldet, also tragen wir die Verantwortung. Aber für das, was jetzt passiert, sind wir nicht verantwortlich.«
    Das ruft Natze Probst von der Kükenfarm. Natze kann wunderschön revolutionäre Lyrik rezitieren.
    Auch heute du zerstampft. Ein Noch-Zerschellter.
    Sie aber töten nicht den Geist.
    Zurück, empor gen unberührte Wälder!
    Der Mensch sei frei!
    Ich breche auf. Ich komme! Ah: Trompeten.
    Die Kükenfarm ist das letzte bewohnte Haus auf der Insel, mindestens hundert Meter entfernt von den anderen Gebäuden. Deswegen treffen sich dort die Kommunisten. Hans Coppi kommt aus einem kommunistischen Elternhaus. Heinrich Scheels Vater ist Sozialdemokrat. Hans Coppi hat Heinrich Scheel per Handschlag in den Kommunistischen Jugendverband aufgenommen. Durch das Lager der Scharfenberger ging der große Riss nicht, der die Linke spaltet. Aber natürlich ist auch auf Scharfenberg nun alles vorüber: alle Eintracht, alle Freiheit, alle Scharfenberger

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