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Wer wir sind

Wer wir sind

Titel: Wer wir sind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Friedrich
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sitzen beim Breakfast. Sie lesen ›Antonius und Cleopatra‹, mit verteilten Rollen. Sie stehen im Salon, sie lächeln freundlich, sie balancieren Teetassen. Sie scherzen, Hitlers Gebell sei zweifelsfrei schlimmer als sein Biss. Sie versichern einander, das Regime würde sich mit der Zeit schon mäßigen, die stürmischen Auswüchse würden sich totlaufen. Freilich, am Ende wird sich alles totlaufen! Wo heute Chichester steht, der Bischofspalast, die Kathedrale, stand einstmals eine römische Siedlung. Wo die Gäste des Bischofs heute dasgroßzügige und köstliche englische Frühstück genießen, siedelten keltische und noch früher irgendwelche neolithischen Stämme, wo sind sie hin? Alles läuft sich am Ende tot: Aber so lange können die Leibholzens nicht warten. Es ist atemberaubend, dass man nicht weiß, wie lange man warten muss. Wann werden sie wieder leben, wann darf Gert wieder arbeiten? Wann kann er aufhören, seine Zeit zu vertrödeln?
    Es ist das, was Gert quält: das unwiederbringlich verfließende Leben. In direkter finanzieller Not sind sie nicht. Sie haben ein paar Ersparnisse, Gert erhält ein kleines Stipendium aus einem Hilfsfonds des Weltrats der Kirche, und Sabine plant, wieder zu töpfern. Sie haben ein Auskommen. Aber ihr Leben ist hinter ihnen zurückgeblieben: die Familie, die Sprache, alles, was sie berührt und erschüttert und im Innersten angeht. Die innere Unruhe ist manchmal fast nicht erträglich.
    Die Unruhe drängt Sabine hinaus in die Stadt, wieder zurück ins Zimmer, zum Sofa, zum Tisch und wieder aus dem Haus. Sie treibt Sabine der Zukunft entgegen. Die Zukunft beginnt aber nicht. Und die Vergangenheit ist vorüber. Die Engländer sprechen heiter, gelassen.
    Die Engländer plaudern, sie machen Konversation über die Lage auf dem Kontinent, sie nehmen ein weiteres entrindetes Kressesandwich und wechseln zu einem englischen Thema. Sabine und Gert gehen durch Sydenham, durch Chichester. Sie gehen durch London.
    Sie überqueren die Plätze und Straßen dieser riesigen Stadt. Sie fluten mit den anderen in die Mäuler der Untergrundbahn, werden wieder ausgespien, sie sind in Berlin aufgewachsen, aber dem Wirbel, dem Strudel, dem Strömen solcher Menschenmassen sind sie niemals ausgesetzt gewesen. Zu Hause wussten sie, wer sie waren. Hier sind sie Tröpfchen in der Flut, verloren in einem schneelosen englischen Winter voll Nebelund grünem Gras, Möwengeschrei wie am Ostseestrand, die weißen Vögel wirbeln aus den Wolken herab. Sie wirbeln aus dem Nebel über der Themse. Sabine und Gert gehen und warten, stehen und warten. Sie warten darauf, endlich zu wissen, worauf sie warten oder wie lange sie werden warten müssen. Dann, mitten am Tage, mitten im Warten, mitten in diesem grauen Meer eines unbestimmten Lebens, ergreift Sabine mitunter eine große Freude.
    Sie sind am Leben. Sie sind in Sicherheit. Das eiserne Band, das Sabines Herz in Deutschland so viele Jahre enggeschnürt hat, ist geborsten. Die Nazis sind fern. Sabine und Gert sind jung. Sie reisen. Sie erleben ein Abenteuer. Sie sehen und lernen Neues, immerzu, jeden Tag. Sie haben einander, sie haben die Kinder, die schon beginnen, Englisch zu sprechen, ohne die Spur eines deutschen Akzents.

ZWEITER TEIL

1
    Es ist alles zerstört. Es ist alles zugrunde gerichtet. Es ist ein Herbstabend 1932, und sie werden laut, sie werden scharf, sie schreien einander an. Worum geht es überhaupt?
    Auf dieser zwanzig Hektar großen Insel mitten im Tegeler See haben einst Alexander und Wilhelm von Humboldt gespielt. Dann hat der Naturforscher Karl Bolle nach seinen Studienreisen zu den Kapverdischen und Kanarischen Inseln Hunderte ausländischer Bäume und Sträucher hier heimisch werden lassen. Und 1922 hat Direktor Wilhelm Blume seine Reformschule gegründet, die Schulfarm Scharfenberg. Die Schüler waren von Anfang an mit dabei. Sie haben beim Bau des Fährhauses und des Blume-Hauses geholfen, auf dem Scheunenboden einen Schlafsaal eingerichtet und die Scheune zum Speisesaal ausgebaut, in dem sie nun sitzen und einander bekriegen.
    »Keine Verantwortung! Diese Schüler haben keinerlei Verantwortung gezeigt!«
    Aber was brüllt Ackermann denn? Ackermann ist ein Idiot.
    »Was denn für Verantwortung? Verantwortung übernimmt man freiwillig. Verantwortung kann nicht gefordert werden.Verantwortung kann man nur tragen, solange man sich selbst die Regeln gibt.«
    »Dummes Gerede!«
    Wann hätte je ein Lehrer einen Schüler auf Scharfenberg

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